Davids letzter Film
die er eben noch kraftvoll ausgestreckt hatte, verkrampften
sich plötzlich in einer verzweifelten Abwehrhaltung. Sein Oberkörper aber drehte sich weiter, langsam nach vorne, durch den
Schwung des Absprungs in der Bewegung …
Dann knallte er gegen die fensterlose Hauswand auf der anderen Seite. Der Aufprall war deutlich zu hören. Es schien, als versuche
David, an der senkrechten Wand etwas zu fassen zu bekommen, etwas, das den mörderischen Sturz abbremsen könnte. Aber da war
nichts, da war nur die senkrechte Wand. Und der Abgrund, der ihn wie ein mächtiger Staubsauger dem Boden entgegenriss. Vier,
fünf Meter weit rutschte David an der Wand entlang nach unten, dann entfernte sich sein Körper noch einmal von der Mauer,
drehte sich auf den Rücken, er begann mit den Armen zu rudern … stürzte, stürzte, stürzte -
- und knallte im nächsten Augenblick hart auf den Bürgersteig.
Flo warf sich nach hinten. Um ein Haar wäre er hinterhergestürzt, wie magnetisch von Davids Aufschlag nach vorne gezogen.
Er robbte zum Rand des Dachs, von dort konnte er ihn auf dem Bürgersteig liegen sehen. Flos Knie zitterten, und ihm war schwindlig.
Aber er konnte den Blick nicht von dem Körper auf der Straße wenden, auf den jetzt entsetzte Passanten zuliefen.
Davids Mantel hatte sich unter ihm verdreht. Seine Beine und Arme lagen wie die einer Puppe übereinander.Aufgeschlagen aber war er mit dem Kopf. Der Schädelknochen war aufgeknackt und eine dunkle Flüssigkeit aufs Pflaster gespritzt.
Da rollte der Kopf herum, und Flo bekam die Augen zu sehen. Augen, in denen kein Weiß mehr war – die schwarz waren vom Blut,
als wären die Pupillen über die Augäpfel gewuchert.
42
Die Luft war klar und kalt, der Himmel schien sich in seinem strahlenden Blau bis in die Stratosphäre hineinzuwölben.
Ein Taxi rollte die Straße entlang, rumpelte über die Bürgersteigkante und stoppte, keine hundert Meter von Davids Villa entfernt.
Auf dem Rücksitz des Wagens saß Flo. Er ließ das Fenster ein wenig herunter. Die kühle Luft tat ihm gut. Von hier aus konnte
er den Eingang der Villa im Blick behalten. Dort herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Zivilbeamte schleppten kistenweise
Material aus dem Haus zu einem Lieferwagen, der in der Einfahrt parkte.
Florian wartete. Er hatte keine Lust, aus dem Taxi zu steigen. Keine Lust, nachzudenken. Keine Lust, eine Entscheidung zu
fällen. Er wollte einfach nur warten. Auf Thea.
Er hatte sich vorgenommen, sie abzupassen, wenn sie aus dem Haus kam. Er würde versuchen, ihr zu erklären, was gestern Nacht
passiert war. Vielleicht würde sie ihn nicht verstehen. Vielleicht würde sie ihn nicht ausreden lassen. Aber er musste es
versuchen.
Zäh floss die Zeit dahin. Erst Minuten. Dann Stunden. Die erste. Die zweite. Der Lieferwagen stand noch immeran seinem Platz vor der Tür. Beamte kamen jetzt nicht mehr aus dem Haus.
Flo schloss die Augen. Seine Gedanken kehrten zurück zur vergangenen Nacht. Wieder sah er die Bilder vor sich. Wie David bei
dem Versuch, den Sturz doch noch zu bremsen, an der Wand abrutschte.
Sollte er Thea anrufen? Aber um ihr was zu sagen?
Da hörte er den Motor des Lieferwagens starten. Florian öffnete die Augen und blickte zur Villa. Gerade kamen Riemschneider
und Thea aus dem Haus. Flo beobachtete, wie Riemschneider sich von Thea verabschiedete und in den Lieferwagen setzte. Wie
der Wagen davonfuhr. Wie Thea allein die Straße in entgegengesetzter Richtung hinunterlief – aufrecht, vielleicht ein wenig
zu aufrecht, wie um ihre Unsicherheit zu verbergen.
Er beugte sich zu dem Taxifahrer nach vorn und zahlte. Dann stieg er aus.
»Thea?«
Sie blieb stehen und sah sich um. Ihr Gesicht erschien ihm eine Spur hagerer als sonst, die Augen matt. Als sie ihn sah, zuckte
sie unmerklich zusammen.
»Hast du einen Moment?«
Für einen Augenblick sah sie ihm in die Augen, dann wandte sie sich wieder nach vorn und setzte ihren Weg fort. Flo beschleunigte
seine Schritte und holte sie ein.
»Ich … Thea, es … es tut mir leid.«
Was sonst sollte er sagen? Er warf ihr einen Blick zu. Sie lief weiter, das Gesicht undurchdringlich. Er meinte förmlich zu
spüren, wie unangenehm er ihr war. Aber er wollte sie so nicht gehen lassen.
»Hast du das gewusst?«, fragte er. »Von dem Jungen? In ›Audience‹?«
Jetzt blieb sie doch stehen, mit hängenden Armen, eine Spur Gehetztheit im Blick. »Was willst du,
Weitere Kostenlose Bücher