Davids letzter Film
nichts mehr, das ihm Hoffnung
hätte geben können. Außer der Schachtel mit dem Lippenstift und ein paar Seiten, die den Wasserschaden überlebt hatten, war
die ganze Kiste ein einziger Müllhaufen!
Verwirrt zog Flo den zweiten Karton aus dem Regal. Auch er hatte etwas abbekommen, aber weniger. Zuoberst lagen einige Bücher,
die er einst liebgewonnen hatte. Aber die meisten Titel hatte er ohnehin inzwischen noch einmal erworben. Unter den Büchern
befanden sich ein paar Packen Briefe. Wenigstens etwas. Flo fischte die alten Kuverts aus dem Karton. Es mussten Hunderte
sein. Von seiner Mutter. Von Freundinnen, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Sogar alte Rechnungen waren darunter.
Endlich stieß er auf die Briefe, die David ihm geschrieben hatte. Insgesamt nicht mehr als ein halbes Dutzend.Flo erinnerte sich dunkel daran, dass ihn der letzte besonders beeindruckt hatte. Er zog den Brief aus dem Umschlag und überflog
die Zeilen.
Sie stammten vom Dezember 1996. David schrieb, dass er kurz davorstehe, den Film »Das Corps«, seine Abschlussarbeit für die Akademie, fertig zu schneiden.
Dabei sei ihm ein Gespräch wieder in den Sinn gekommen, das sie früher öfter zusammen geführt hätten. Bei diesem Gespräch
habe es sich immer um die Frage gedreht, welche Aufgabe ein Film eigentlich erfüllen sollte. Ihm, David, sei während der Arbeit
am »Corps« noch einmal sehr klargeworden, wie wichtig die Beantwortung dieser Frage sei – und dass er bisher leider keine
zufriedenstellende Antwort darauf gefunden habe.
»Was hatten wir denn damals gesagt, Flo?« schrieb er. »Ein Film sollte spannend und unterhaltsam sein, richtig? Er sollte
eine perfekte Illusion erzeugen. Mit den Autorenfilmern der Siebziger, ihren Verfremdungseffekten, Reflexionen und Verkopfungen
wollten wir nichts zu tun haben. So habe ich ›Das Auge‹ auch gemacht. Der Film sollte einen voll in seinen Bann ziehen. Wenn
man den Reaktionen der Leute Glauben schenken darf, ist mir das auch ganz gut gelungen. Doch ist das wirklich alles, was ein
Film leisten kann und soll? Eine Illusion aufbauen, einen Schein erzeugen – letztlich eine Lüge erzählen??
Schon bald, nachdem ich ›Das Auge‹ fertiggestellt hatte, erschien mir das denn doch zu wenig. Also fing ich von vorne an.
Müsste ein Film dem Zuschauer nicht vielmehr die Augen
öffnen
, statt sie mit Lügen
zuzukleistern
? Ihm also eine Wahrheit zeigen, die er noch nichtgesehen hat, statt ihn in einen Traum zu verstricken, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat?
Das war es dann auch, was ich mit dem ›Corps‹ versucht habe. Für mich ist ›Das Corps‹ vor allem die Geschichte eines Mannes,
der dahinterkommt, dass die Gemeinschaft, in die er sich einfügen soll, nichts anderes ist als eine Inszenierung, die mit
großem Geschick aufgebaut wurde, um ihn in die Irre zu führen. Am Ende durchschaut er das und erkennt die Wahrheit hinter
der Illusion. Und indem er das erkennt, erkennen auch
wir Zuschauer
eine Wahrheit: nämlich, dass wir durch und durch von den Gepflogenheiten der Gemeinschaft geprägt sind, der wir angehören.
Das ist eine Erkenntnis, die auch außerhalb des fiktiven Universums des Films voll und ganz ihre Gültigkeit hat. ›Das Corps‹
erschöpft sich somit nicht darin, einen Schein aufzubauen beziehungsweise eine Lüge zu erzählen. Sondern er öffnet dem Zuschauer
die Augen für eine Wahrheit, die von der Fiktion dieses Films unabhängig ist.
Habe ich damit endlich eine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden, welche Aufgabe ein Film erfüllen soll? Ich fürchte,
nicht. Denn jetzt, wo ich die Arbeit am ›Corps‹ fast hinter mir habe, beschleicht mich das Gefühl, auch in dieser Produktion
die Möglichkeiten der filmischen Mittel nicht vollends ausgeschöpft zu haben.
Lass mich erklären, was mich an diesem Film nach wie vor nicht zufriedenstellt. Es stört mich, dass ich im ›Corps‹ eine gewaltige
Illusion
aufbauen musste, um am Ende mein Ziel – die Vermittlung einer
Wahrheit
– erreichen zu können. Kannst du mir folgen? Im ›Corps‹ habe ich das Corpshaus, die Studentenverbindung, die Kommilitonen,
die Wissenschaftler et cetera erfunden und inszeniert, umam Ende die Wahrheit zu vermitteln, um die es mir ging: dass wir von unserer Gemeinschaft geprägt sind. Das Corpshaus, die
Studenten, die Wissenschaftler et cetera sind jedoch nur eine Fiktion, eine Lüge, eine Illusion! Der
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