Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Davids letzter Film

Davids letzter Film

Titel: Davids letzter Film Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
Vom Netzwerk:
Film operiert also gerade
     mit dem, was er hinter sich lassen wollte: mit der Illusion, dem Schein.
    Haben wir also mit dem ›Corps‹ nach dem ›Auge‹ doch keinen Schritt nach vorne gemacht? Inzwischen glaube ich, in dieser Frage
     etwas klarer zu sehen: Wir haben einen Schritt nach vorne gemacht. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Lass mich auch das kurz
     erläutern. Der Schritt nach vorn, den wir mit dem ›Corps‹ gemacht haben, besteht darin, dass wir nicht länger nur eine Illusion
     aufbauen, sondern dass wir diese Illusion auch durchschauen. Wir sind jedoch noch nicht am Ziel, weil sich anhand des ›Corps‹
     die Frage stellt, ob jeder Versuch, eine Wahrheit auszudrücken, nur um den Preis einer noch umfassenderen Illusion geleistet
     werden kann.
    Versteh mich nicht falsch. Es geht mir nicht darum, nur noch Dokumentarfilme zu machen. Sondern es geht mir um die Frage,
     wie wir mit den Mitteln der Fiktion etwas anderes als reine Unterhaltung, reine Illusion, reinen Schein erzeugen können!
    Lass mich den Gedankengang noch eine Wendung weiterdrehen: Müssen wir möglicherweise die Vorstellung
aufgeben
, wir könnten hinter den Illusionen an eine Wahrheit gelangen? Und stattdessen eher anfangen, mit diesen Illusionen selbst
     geschickt zu operieren? Ist ein solches
Spiel mit den Illusionen
das, was uns am weitesten an das heranbringt, was ich hier wieder und wieder ›Wahrheit‹ nenne? Kann es am Ende nur darum gehen,den
Argwohn
an den Illusionen zu schüren, und nicht mehr darum,
hinter
die Illusionen zu blicken?! DAS ist es, was ich in meinen nächsten Arbeiten herausbekommen möchte!«
     
    Florian richtete sich auf. Na bitte. Das war doch was. Die Reflexionen des Meisterregisseurs als junger Mann, genau das, was
     er für seinen Artikel brauchte. Er griff nach dem Kugelschreiber, mit dem er die Kiste geöffnet hatte, und machte sich ein
     paar Notizen in seinen Taschenkalender. Dann las er den Brief zu Ende. In den letzten Absätzen berichtete David von seinen
     Schwierigkeiten, Geld für sein neues Projekt aufzutreiben. Er erwähnte auch einen Galeristen, der ihm beim »Corps« geholfen
     hatte, mit dem er sich jedoch inzwischen verkracht habe. Dennoch wolle er den Mann noch einmal aufsuchen.
     
    »Denn es gibt etwas, womit ich diesen Galeristen trotz allem noch einmal ködern kann«, schrieb er. »Soweit ich weiß, hast
     du ›Das Corps‹ nie gesehen. Der Mann hatte meinen Film finanziert, weil ich ihm glaubhaft versichern konnte, dass er darin
     eine Geschichte zu sehen bekäme, wie er sie noch nie gesehen hatte. Und ich habe mein Wort gehalten. Das, was ich ihm zeigte,
     hat ihn hingerissen. Und weißt du, warum? Weil er noch versessener darauf ist als ich, in Abgründe einzutauchen, vor denen
     andere schockiert zurückweichen.
    Ich unternehme diese Ausflüge wie ein Entdecker, der neugierig ist auf die letzten weißen Flecken der Landkarte. Er aber genießt
     es, in den Strapazen und Verwerfungen zu baden, die solche Exkursionen mit sich bringen.Er schwelgt darin, kann nicht genug davon bekommen und giert danach, die Schraube der Perversion immer noch weiterzudrehen.
     Beim ›Corps‹ kam es deshalb zum Streit zwischen uns, weil er noch weitergehen wollte als ich. Inzwischen ist mir klargeworden,
     dass er vielleicht gar nicht so unrecht damit hat. Was nützt es uns, vor Schritten zurückzuschaudern, die uns unbekanntes
     Gebiet erschließen? Wollen wir ewig auf das uns bereits Bekannte beschränkt bleiben? Nein! Oder?
    Manchmal werfe ich mir vor, dass ich bald so abgestumpft sein könnte wie er. Dann aber packt mich wieder der Drang, Neuland
     zu betreten – egal, wie versumpft es sein mag. Und genau damit werde ich meinen Finanzier auch diesmal wieder ins Boot holen.
     Mit der Aussicht, ihm etwas bieten zu können, das er noch nie gesehen – noch nie erlebt hat. Denn ich kenne niemanden, der
     so großzügig sein Geld dafür investiert, der so versessen darauf ist, wie Tegtmeyer.«
     
    Tegtmeyer!
    Flo richtete sich auf. Der Galerist.
Das
war sein Name!
    Hastig warf er die Sachen, die er aus dem Karton hervorgeholt hatte, wieder zurück. Nur den Brief und ein Foto, das er in
     dem Karton gefunden hatte und auf dem er zusammen mit David zu sehen war, steckte er ein.
    Dann schob er die beiden Kisten zurück ins Regal, stand auf und verschwand in dem trüben Licht zwischen den Metallregalen
     der Lagerhalle.

19
    Als Florian wenig später aus dem Gewerbehof trat, in dem sich das

Weitere Kostenlose Bücher