de profundis
Bevölkerung benutzen kein Toilettenpapier, sondern bevorzugen Zeitungen und alte Briefe. Ich warte auf die erneute Machtübernahme durch die Bolschewiki als Auszeichnung für mein Andersdenken, als Unterscheidungsmerkmal des undurchsichtigen Wilden, der rettenden Andersartigkeit, als Lohn für eine falsche Identität, als exotisches Mittel zur Verlängerung der russischen Materie. Ich dachte, die Moskauer Mafia übernimmt alle Funktionen der Undurchlässigkeit. Dachte ich! Aber sie ist bereits der Korrosion einer allumfassenden Einförmigkeit anheim gefallen, sie hat bereits verfügt, ihre Kinder in angesehene Schulen zu schicken, und schon verfassen die Kinder in Harvard Denunziationen ihrer Väter, diese verdrehten Pawlik Morosows.
Ich hatte versprochen, etwas ausführlicher von deiner kindlichen Fotze zu erzählen, die hell war und nicht von diesen schamlosen Dingen umgeben, ich hatte es versprochen, aber ich fürchte, mit dieser Aufgabe nicht fertig zu werden. Moskau kann man leicht beleidigen, indem man seine Sinnlosigkeit, das Fehlen jeder Logik und kultureller Orientierungspunkte in Frage stellt.
Der Rote Platz. Sur son ventre incliné, qui me rappelle la rotondité de la Terre, vous découvrirez un curieux nombril, den Richtplatz, grand comme une piscine gonflable. Den Westen brauchen wir gerade so viel, dass er in uns selbst nicht existiert.
Kugelblitz
Die Ankunft des weltberühmten Künstlers Natalja Alexejewna Obolenskaja in Moskau – das Wort Künstlerin will einem für sie nicht über die Lippen kommen – war ein Event. Besser gesagt, es hatte die Auswirkung einer explodierenden Atombombe. Seit Sinaida Serebrjakowa, die die Obolenskaja mit einem nachsichtigen Lächeln als ihre »kleine Lehrerin« bezeichnet (offensichtlich aus dem Französischen entlehnt), hat es in der russischen Malerei nichts Vergleichbares gegeben. Großen Respekt empfindet Natalja Alexejewna auch vor der Muchina, und ein Foto, auf dem sie vor deren »Arbeiter und Kolchosbäuerin« zu sehen ist, war in allen Moskauer Journalen erschienen. Sie erklärte offen, dass sie genug habe von avantgardistischen Amazonen, ebenso wie von der Poesie der »flüchtigen Geliebten« Modiglianis: Anna Achmatowa.
Wir saßen im »Puschkin«, aßen Sterlet in Champagner.
»Der Sterlet ist das einzige unverwechselbar russische Produkt«, sagte Natalja Alexejewna, während sie den Fisch eingehend betrachtete. »Kaviar gibt es auch im Iran. Und sogar besseren.«
»Der Sterlet hat ein sehr kluges und listiges Gesicht«, sagte ich. »Das sind nicht gerade russische Eigenschaften.«
Natalja Alexejewna betrachtete mich interessiert. Sie war mit italienischem Schick gekleidet, dabei jedoch auch irgendwie englisch. Wenn sie die Kellner ansah, begannen in deren Händen die Tabletts zu vibrieren.
»In Petersburg habe ich irgendwelche Verwandten, aber das sind sehr wahrscheinlich arme Leute, und ich mag keine Armut. Überhaupt mag ich Menschen nicht besonders.«
Sie sah mich forschend an.
»Ich habe mal ein Poem geschrieben, das hieß ›Meine Frau, der Sterlet‹«, sagte ich.
»Dafür mag ich geistig Behinderte, Debile und psychisch Kranke. Ich habe Geld für ein Heim mitgebracht. Da schlafen sie in vollgepissten Bettlaken. Empörend. Außerdem mag ich Jungfrauen.«
»Warum wurde Ihre Fotoausstellung im letzten Moment vom Kulturministerium verboten?«
»Ich habe einen Katalog dabei.«
Natalja Alexejewna sprach mit einem unnachahmlichen altmodischen Akzent. Die Kellner sahen sie an wie eine Adlige, die auf ihr Gut zurückgekehrt ist.
»Ich bin schwedische Staatsbürgerin«, sagte sie. »Das hat sich so ergeben.«
»Vielleicht ist das Poem über den Sterlet das Beste, was ich je in meinem Leben geschrieben habe.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Natalja Alexejewna. »Geben Sie mir meine Tasche rüber, mein Freund.«
Der Kellner nahm die Tasche von einer speziellen Ablage und reichte sie der Obolenskaja.
»Chagall und Kandinsky habe ich nie gemocht«, sagte sie. »Aber Picasso kann man schwerlich ablehnen. Ich habe ihn als kleines Mädchen gesehen. Er hatte ein gestreiftes Matrosenhemd an.«
»Und Malewitsch?«
»Millewitsch? Er war Pole. Ganz nett, immerhin. Aber nicht klug.«
»Moskau wird Ihre Ausstellung also nicht zu sehen bekommen?«, fragte ich.
»Ich wohne nicht weit von hier, in einem guten Hotel«, sagte Natalja Alexejewna. »Ich habe den Katalog wohl dort liegen lassen. Bei Ihnen in Moskau herrscht ein billiger Luxus. Auf dem
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