Dead Beautiful - Deine Seele in mir
halben Stunde.«
»Vielleicht war es ein … ein Zufall.« So hatte es die Polizei genannt.
Er hob eine weiße, buschige Augenbraue. »War es das?«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will gar nichts sagen«, versicherte er mir. »Ich versuche nur zu begreifen.«
»Ich weiß nicht, wie ich sie gefunden habe. Ich bin einfach nur losgerannt.«
Mein Großvater schien etwas sagen zu wollen, aber dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und stützte das Kinn auf seine Faust. »Du brauchst neue Schuhe. Die, die du trägst, sind viel zu jugendlich für ein Mädchen deines Alters. Wir werden dir nächste Woche ein neues Paar besorgen.«
Perplex schaute ich auf meine Chucks. Seine Bemerkung hätte mich kaltlassen sollen, aber das tat sie nicht. Da saß er, mit seinen Fragen und Regeln und seiner Zehn-Uhr-Sperre, wollte mir meine Lieblingsturnschuhe wegnehmen und zwang mich, über den einen Moment meines Lebens zu sprechen, den ich unbedingt vergessen wollte. Er ruinierte auch noch den letzten Rest meines ohnehin schon verpfuschten Lebens.
»Ich will keine neuen Schuhe«, brüllte ich, »ich will meine Eltern wiederhaben.« Ich rannte nach oben, knallte meine Zimmertür zu und brach zornig und hilflos auf demBoden zusammen. Ohne nachzudenken, rief ich Annie an. Beim dritten Klingeln hob sie ab.
»Ich muss hier raus«, sagte ich ihr. »Holst du mich ab?«
»Bin in zehn Minuten da.«
Wir fuhren zum Jachthafen. Seit unserem Strandausflug hatte ich Annie kaum gesehen. Als ich an jenem Abend nicht aus dem Wald zurückgekommen war, hatte sie die Polizei gerufen und danach begonnen, mich zu suchen. Nachdem man mich bei den Leichen meiner Eltern gefunden und nach Hause gebracht hatte, hatte sie mich nicht gelöchert, was ich gesehen oder empfunden hatte. Ich war froh, dass ihr die Worte fehlten, denn mir ging es genauso. Wie hätte ich ihr erklären sollen, dass ich an jenem Tag im Wald ebenfalls gestorben, dass alles bedeutungslos geworden war? Alles, was ich einmal geliebt hatte – Lacrosse, der Strand, Bücher, Geschichte, Filme –, das alles wirkte nun sinnlos.
Und dann all die Menschen – die Nachbarn, die Mädchen vom Lacrosseteam, die Verwandten, Leute aus der Stadt. Unablässig kamen sie zu mir und erzählten, dass sie meine Eltern gekannt hatten und wie sehr sie ihnen fehlen würden. Zum ersten Mal im Leben war ich tatsächlich froh, dass meine Eltern mir kein Handy erlaubt hatten: eine Sache weniger, auf die ich reagieren musste. Die Polizei kam. Und hatte Fragen. Ob ich wusste, weshalb meine Eltern an diesem Tag im Wald gewesen waren. Ob sie sich an den vorangegangenen Tagen ungewöhnlich verhalten hatten. Oder ob es irgendwelche Feinde gab.
»Nein«, antwortete ich. »Nein.«
Aber am schwersten war es, eine Erklärung zu finden für das, was geschehen war. Beider Todesursache war ein Herzanfall gewesen, was vernünftig geklungen hätte, wären da nicht die Umstände gewesen. Es war einfach ein unmöglicher Zufall, dass beide zum genau gleichen Zeitpunkt einen Herzanfall gehabt haben sollten. Trotzdem bestätigte das medizinische Gutachten, dass sie körperlich ansonsten völlig gesund und unversehrt waren, dass es keinerlei Hinweise auf Gewalt, einen Kampf oder irgendetwas Ungewöhnliches gab – mit einer Ausnahme. Bei beiden waren bei der Autopsie Erde und Streifen weißen Stoffs im Mund gefunden worden. War an diesem Stoff etwas auffällig? »Nein. Nur ganz gewöhnlicher Mull, wie er in jedem Krankenhaus verwendet wird«, sagten sie mir. Aber keiner hatte eine Erklärung dafür, wie er dorthin gekommen sein konnte.
Die Polizei war zum Schluss gekommen, dass das Herzversagen durch einen »Wanderunfall« ausgelöst worden war, doch für mich war das keine Erklärung. »Wie soll das ein Unfall gewesen sein?«, hatte ich die Polizeibeamten angeschrien, die Ärzte und die Krankenschwestern. »Wollen Sie mir wirklich erzählen, dass beide in derselben Sekunde an einem Herzschlag gestorben sind? Das gibt’s nicht. Sie waren gesund. Sie hätten bei der Arbeit sein sollen. Sie hatten Mullbinden im Mund! Wie kann das normal sein?« Sie warfen mir verständnisvolle Blicke zu und erklärten mir, dass ich eine schwere Zeit durchmachte und dass sie mich verstünden. Sie würden die Akte noch nicht schließen. Aber mir war klar, dass es nicht genug Beweismaterial gab, um eine genauere Untersuchung zu rechtfertigen. War es Mord? Ich wusste es einfach nicht. Warum sollte irgendwermeine Eltern umbringen wollen?
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