Dead Beautiful - Deine Seele in mir
erst heute Morgen erfahren, was passiert ist. Ich hoffe, du kannst meine Abwesenheit verzeihen.«
Ich schwieg. Meine Mutter hatte mir immer von den strengen Regeln erzählt, die er ihr als Jugendliche in Massachusetts gesetzt hatte; wie er ständig nur ans Geld und Auftreten und den guten Familiennamen gedacht hatte, den auch ich tragen musste – statt dem meines Vaters. Die Kindheit meiner Mutter auf dem düsteren Anwesen im Wald hatte immer so anders gewirkt als meine. Stets hatte sie gesagt, dass es einsam gewesen sei und dass sie mehr Zeit mit der Haushälterin verbracht habe als mit ihren Eltern, was wohl auch der Grund gewesen war, mit meinem Vater nach Kalifornien zu ziehen. Unser Haus war eines von denen, wo man Dinge anfassen durfte, pflegte sie zu sagen. Es war nichts Besonderes, aber gemütlich, mit Wänden, die voller Fotos hingen, und großen Fenstern, durch die das Licht der Morgensonne fiel. Der Rasen wurde nie rechtzeitig gemäht und im Pool trieben Blätter und tote Käfer, doch an heißen Sommertagen schien alles vollkommen. Ich musterte die Schuhe meines Großvaters. Sie wirkten unbequem.
»Ich werde eine Weile bei dir wohnen«, sagte er und setzte sich die Brille auf. »Eine ganze Weile, denke ich. Deine Eltern haben mich als deinen gesetzlichen Vormund eingesetzt; zugegebenermaßen eine Überraschung für mich, in Anbetracht unserer letzten Begegnung. Aber eineangenehme Überraschung natürlich, auch wenn ich es mir nie unter solch tragischen Umständen gewünscht hätte. Ich habe es immer bedauert, in deinem Leben keine Rolle zu spielen.« Er hielt inne und fuhr dann mit milderer Stimme fort. »Manchmal hilft es, an schöne Dinge zurückzudenken. Sie erinnern dich daran, dass das Glück existiert, auch wenn es gerade nicht so scheint.« Ich antwortete nicht und er stand etwas unbehaglich neben mir. »Nun, dann freue ich mich darauf, dich beim Abendessen zu sehen. Es wird um Punkt halb acht serviert.«
Ich schloss meine Augen und zwang mich, nicht loszuheulen. Auch wenn er mein gesetzlicher Vormund war und praktisch alles, was ich noch an Familie hatte, war es mir egal, ob er bei mir blieb oder ob ich ihn niemals wiedersehen würde, und zu Abend essen würde ich garantiert nicht. Mein Appetit hatte sich seit der Nacht im Wald komplett verabschiedet. Ich war allein, völlig allein, und ich hatte keine Ahnung, wo und wie sich mein Leben ohne Eltern abspielen sollte. Besucher gaben sich bei uns die Klinke in die Hand, aber sie zogen wie hinter einem Schleier an mir vorbei, eher wie Schattenrisse als wie richtige Menschen.
Mein Großvater belagerte mich noch immer, doch ich blieb stumm und wartete, bis er schließlich seine Hose abklopfte und sich in die Küche zurückzog. Über mir durchpflügte der Deckenventilator langsam die Luft, bis ihr heißer, schwerer Atem meinen Hals streifte.
Die nächste Woche verging wie im Traum. Ich verbrachte die meiste Zeit damit, im Haus herumzuirren und dabei die Hitze und meinen Großvater zu meiden, der anscheinendimmer nur über meine Zukunft sprechen wollte, obwohl ich noch in der Vergangenheit festhing. Er war Professor, inzwischen pensioniert; meine Großmutter war gestorben, als ich noch ein Baby war. Jetzt, da er hier war, war ich praktisch ans Haus gefesselt. Beinahe über Nacht wurde mein Leben zu einem »Tagesablauf« reglementiert. »Regeln helfen uns beim Leben, wenn wir den Willen dazu verloren haben«, sagte er. Er brachte seinen Gutsverwalter mit, einen kahlen, schlaffen Typen namens Dustin, der kochte, putzte und ihn herumkutschierte. Dreimal am Tag wurde gegessen: Frühstück um sieben, Mittagessen um eins und Abendessen um halb acht. Das Frühstück zu verschlafen war verboten und ich musste meinen Teller leer essen, bevor ich den Tisch verlassen durfte. Normalerweise wäre das kein Problem gewesen, aber das von Dustin Servierte war weder leicht hinunterzubekommen noch zu verdauen: Gänseleberpastete, Weinbergschnecken, Beluga-Kaviar, Blutwurst und stachlige Salate, die mehr einem Reptil als einem Gemüse ähnelten.
Beim Abendessen krittelte mein Großvater an meinen Tischmanieren herum und betrachtete meine zerfetzten Jeans und Trägerhemdchen mit Abscheu. Meine Körperhaltung sei entsetzlich, sagte er, und ich hielte meine Gabel wie ein Barbar.
Heute war keine Ausnahme. Obwohl ich zurückschlagen wollte, warf ich ihm nur einen grimmigen Blick zu – ich hatte rasch gelernt, mir meine Schlachtfelder vorsichtig auszusuchen, und heute
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