Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
seit wann war sie ein Feigling? Wann hatte sie ihre Abenteuerlust verloren? Sie, die mit so vielen älteren Brüdern aufgewachsen war, die sich nie hatte einschüchtern lassen, sondern alles mitgemacht hatte, was die Jungen unternahmen – wann war sie zum Angsthasen geworden?
Shannon war in dieser Gegend aufgewachsen. Als Kind war sie ein richtiger Wildfang gewesen. Angst war ihr nahezu unbekannt. Noch vor ihrem vierten Geburtstag konnte sie ohne Stützräder Fahrrad fahren, und als sie achtzehn war, fuhr sie auf der Harley ihres ältesten Bruders über den Highway 101 in Richtung Süden, die ganze wilde Küste Kaliforniens entlang. Als Kind war sie ohne Sattel geritten, hatte auf dem Rodeo sogar am Fasslaufen teilgenommen. Mit fünfzehn war sie heimlich mit zwei Freundinnen zu einem Open-Air-Konzert zum Red Rocks Amphitheater bei Denver getrampt. Später hatte sie am Steuer von Roberts neuem Mustang Cabrio einen Unfall überlebt. Der Wagen landete mit dem Kühler voran im Graben, ein Totalschaden. Sie selbst war mit einem gebrochenen Schlüsselbein, einem verstauchten Handgelenk, zwei blauen Augen und einem angeschlagenen Ego davongekommen und hegte den Verdacht, dass Robert ihr den Vorfall nie verziehen hatte.
Kein Wunder, dass es dann, als sie sich verliebte, ebenso stürmisch zuging. Sie war Feuer und Flamme gewesen und hatte keine Sekunde lang für möglich gehalten, dass aus dieser Liebe etwas anderes als reines Glück entstehen würde.
»Idiot«, murmelte sie bei dem Gedanken an Brendan Giles, ihre erste Liebe. Wie dumm und unbedacht sie gewesen war, und später dann am Boden zerstört, als das dicke Ende kam …
Um die düsteren Gedanken zu vertreiben, öffnete sie den Kühlschrank und kramte hinter einem Sechserpack Cola light eine Flasche Mineralwasser hervor.
Als sie die Tür schloss, war es wieder dunkel in der Küche. Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte und drückte die kalte Flasche an ihre Stirn. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter.
Eine Klimaanlage. Das war es, was sie brauchte. Eine Klimaanlage und eine Einrichtung, die verhinderte, dass irgendwelche Idioten sie mitten in der Nacht anriefen.
Khan gab endlich seinen Posten bei der Tür auf, trabte an Shannon vorbei und scharrte an der Hintertür. Sein Nackenfell war nicht mehr gesträubt. Er drehte sich mit flehentlichem Blick zu ihr um, als könne er es kaum noch erwarten, endlich hinausgelassen zu werden und am nächstbesten Gebüsch sein Bein zu heben.
»Klar, warum nicht?«, sagte Shannon. »Tob dich ruhig aus.« Die Flasche noch immer an die Stirn gedrückt, entriegelte sie die Hintertür. »Aber lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden. Schließlich ist es nach Mitternacht.« Khan schlüpfte blitzschnell hinaus, und sie folgte ihm in der Hoffnung auf eine erfrischende Brise.
Doch die Nacht war heiß und still.
Atemlos.
Shannon trat auf die Veranda hinaus, da fiel ihr Blick auf etwas, was dort nicht hingehörte: ein Blatt Papier, an einen der Pfosten geheftet, die das Vordach stützten. Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Aber vielleicht hatte es mit dem Zettel gar nichts weiter auf sich, vielleicht hatte ihr nur jemand eine Nachricht hinterlassen.
Mitten in der Nacht? Warum hat derjenige nicht stattdessen angerufen?
Das Blut drohte ihr in den Adern zu stocken. Vielleicht war der Anrufer von vorhin ja derjenige, der das Papier an den Pfosten geheftet hatte.
Sie trat zurück und tastete durch die Küchentür mit einer Hand nach dem Lichtschalter. Im nächsten Moment war die Veranda von zwei Glühbirnen hell erleuchtet.
Shannon blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf das Blatt. Bei dem Anblick wurde ihr flau im Magen. Das Papier war angesengt, die Ränder schwarz und gewellt. Jemand hatte es mit einer grünen Reißzwecke an den Pfosten gepinnt.
Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Als sie näher heranging, erkannte sie, dass es sich offenbar um eine Art Formular handelte. Sie rückte ihre Brille zurecht und las die teilweise vom Feuer unkenntlich gemachten Worte, die in der Mitte des Dokuments noch sichtbar waren.
Name der Mutter: Shannon Leah Flan…
Name des Vaters: Brendan Giles
Sie rang nach Luft.
Ihr Atem stockte.
Geburtsdatum:23.Septemb…
Uhrzeit:00.07 Uhr
»Nein!«, schrie sie, ließ die Wasserflasche fallen und hörte wie aus weiter Ferne, wie sie von der Veranda rollte. 23.September! Ihre Gedanken überschlugen sich. Morgen. Nein, es war ja bereits nach Mitternacht, also war heute der
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