Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
konnte. Das Porzellan war ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern gewesen, ein >gutes Service< hatte ihre Mutter es genannt, als befürchte sie, von seiner Familie könne etwas >Unpassendes< kommen.
»Die Neugier hatte Alice von jeher in Schwierigkeiten gebracht«, neckte er sie. Alice war sein Spitzname für sie gewesen, und er hatte nicht nur wegen der physischen Ähnlichkeit gut zu ihr gepaßt.
»Ich weiß«, erwiderte sie leicht zerknirscht. »Und ich fürchte, viel hat sich daran nicht geändert. Der Grund, weshalb ich dich sprechen wollte ... Es hat mit meiner Arbeit zu tun und ist ein bißchen kompliziert. Aber zuerst wollte ich dich wieder etwas besser kennenlernen, erst mal abwarten, ob du mich vielleicht für hysterisch und typisch weiblich überspannt hältst.«
»Ach, komm schon, Vic! Du und hysterisch? Nichts paßt weniger zu dir. Du bist von jeher der Inbegriff kühler Distanziertheit gewesen.« Während er das sagte, fiel ihm das einzige Gebiet ein, auf dem sie ihre Reserviertheit völlig aufgegeben hatte, und er wurde peinlicherweise rot.
»Einige Kollegen in der Fakultät würden weniger schmeichelhafte Ausdrücke für mich finden.« Sie zog eine Grimasse. »Und die Themenwahl für mein Buch hat mich in gewissen Kreisen äußerst unpopulär gemacht.«
»Buch?« Kincaid wandte den Blick von dem Foto, das Vics abtrünnigen Ehemann zeigte. Was hatte sie bloß an ihm gefunden? McClellan sah konventionell und bärtig aus, doch er erfüllte rein äußerlich das Cliché vom gutaussehenden Akademiker, und Kincaid konnte sich vorstellen, wie er seine Studentinnen einwickelte. Eigentlich hätte er Genugtuung darüber empfinden können, daß das Leben Vic so bitter bestraft hatte, statt dessen packte ihn die blinde Wut - nicht auf Vic, sondern auf den Geschlechtsgenossen.
Kincaid fühlte sich nicht schuldlos am Scheitern seiner Ehe. Sie waren beide jung gewesen, hatten gerade erst angefangen zu begreifen, was sie vom Leben erwarteten. Allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Entschuldigung Ian McClellan für sein Verhalten haben sollte. Und was für eine Sorte Mann, so fragte er sich, machte sich ohne ein Wort zu seinem Sohn aus dem Staub?
»Meine Biographie«, antwortete Vic. »Ich arbeite seit ungefähr einem Jahr daran. Die Biographie von Lydia Brooke.« Sie knipste die Leselampe neben ihrem Sessel an, so daß ihr Gesicht plötzlich im Schatten und ihre Hände an der Teetasse im Licht waren. »Ian hat behauptet, ich hätte ihn über meiner Arbeit vernachlässigt. Und damit hatte er vermutlich nicht ganz unrecht. Männer ... Augenblicklich stehe ich mit dem männlichen Geschlecht ein wenig auf Kriegsfuß. Sie wollen einen brillant und erfolgreich. Aber nur, solange das nicht mit einem Verlust der Aufmerksamkeit für sie und ihre Bedürfnisse einhergeht. Und natürlich nur, solange die Erfolge der Frau nicht größer sind als die des Mannes.« Sie sah lächelnd zu ihm auf.
»Klingt ziemlich zickig, was? Außerdem kann man das nicht verallgemeinern. Natürlich weiß ich, daß es Männer gibt, die anders sind. Aber ich komme immer mehr zu der Ansicht, daß sie die Ausnahme darstellen. Ian hat sich erst an Studentinnen rangemacht, als ich genauso viel verdient habe wie er.« Ihr Mund zuckte verächtlich. »Egal. Was weißt du über Lydia Brooke?«
Kincaid dachte angestrengt nach. Dann kam ihm eine vage Erinnerung an schmale Gedichtbände im Bücherregal seiner Eltern. »Sie war eine Lyrikerin aus Cambridge. So was wie eine Ikone der Sechziger ... Sie ist erst vor kurzem gestorben, glaube ich. War sie mit Rupert Brooke verwandt?«
»Sie war besessen von Rupert Brooke, als sie nach Cambridge kam. Ob sie mit ihm verwandt war, spielt keine Rolle.« Vic wechselte ihre Stellung, so daß der Schein der Lampe erneut ihr Gesicht erfaßte. »Und du hast recht. Lydia hat Mitte der sechziger Jahre die Szene beherrscht. Ihre Gedichte drückten Schmerz und Desillusionierung aus und haben das Lebensgefühl der Generation von damals genau getroffen. Nach dem katastrophalen Fehlschlag einer Ehe hat sie einen Selbstmordversuch unternommen, wurde jedoch gerettet. Anfang Dreißig hat sie es noch mal versucht, und dann ist es ihr schließlich vor fünf Jahren gelungen, sich umzubringen. Da war sie siebenundvierzig.«
»Hast du sie gekannt?«
»Ich habe sie einmal auf einer Veranstaltung des College gesehen. Kurz nachdem ich hierhergekommen war. Leider
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