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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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immer weitere Ferne. Was weiß sie schon von der Welt, dachte Lewis, während sie weiter über Steuern, Abgaben und Gesetze referierte. Zum Beispiel die Penang, die konnte von exotischen Ländern, konnte von Dingen erzählen, die wirklich wichtig waren. Die Penang war einer der wenigen Großsegler, die noch die Themse heraufkamen, und lag jetzt im Britannia-Trockendock zur Überholung. Allein der Geruch dieses Schiffs ließ Lewis sehnsuchtsvoll erschaudern. Nach der Schule wollte er ...
      Das Quietschen der Klassenzimmertür riß Lewis mit einem Ruck aus seinen Gedanken. Mr. Bales, der Direktor, stand im Türrahmen, und der Ausdruck in seinem langen, schmalen Gesicht war so eigenartig, daß Lewis’ Magen sich zusammenkrampfte. Aus dem Korridor schwappte eine Welle des Lärms in Lewis’ Klassenzimmer. Es war das Geschrei und Gepolter der Kinder aus den anderen Klassen.
      »Miß fenkins, Kinder!« Mr. Bales räusperte sich. »Ihr müßt jetzt alle sehr tapfer sein. Die Meldung kam gerade übers Radio. Wir stehen kurz vor Eintritt in den Krieg. Die Regierung hat Anweisung zur Evakuierung Londons gegeben. Wir sollen alle nach Hause gehen und uns hier in einer Stunde mit unserem Gepäck wieder melden.« Er wandte sich ab. Die Hand an der Tür, drehte er sich noch einmal um und drohte mit dem Finger: »Und vergeßt nicht eure Namensschilder und Gasmasken! Und seid pünktlich. In einer Stunde, habe ich gesagt.«
      Die Tür fiel hinter ihm zu. Im ersten Moment herrschte atemlose Stille. Dann ertönte der Schrei von Ned Norris in der letzten Reihe: »Ferien! Wir haben Ferien!«
      Die Klasse nahm die Parole auf, drängte sich hinaus und mischte sich unter die anderen Kinder im Korridor. Lewis war mitten unter ihnen, zwängte sich durch das Schultor und sprang mit einem Indianerschrei die Treppe hinunter. Mit dem Herzen allerdings war er nicht dabei.
      Die Kinder zerstreuten sich, doch als Lewis in die Seyssel Street einbog, wurde sein Schritt langsamer. Plötzlich war er sich der Geräusche der Insel bewußt, hörte das unaufhörliche Poltern, Ächzen und Ffeifen von den Docks her, das Tuten der Schlepper und das gedämpfte Stampfen der Schiffsmaschinen vom Fluß. Wie sollte Krieg sein, wenn sich nichts geändert hatte?
      Er dachte erneut an die Penang, die für die Rückreise nach Australien überholt wurde. Er wollte sich am liebsten an Bord verstecken, ein neues Leben in den Outbacks beginnen, sich nicht zu einer fremden Familie auf dem Land verschicken lassen wie ein fehlgeleitetes Gepäckstück. Mit fast elf Jahren war er alt genug, um zu arbeiten. Er war groß für sein Alter und stark, sichergab man ihm irgendwo Arbeit.
      Als er oben in die Stebondale Street einbog, sah er das alte Fahrrad seines Vaters ordentlich gegen die Vordertür ihres Hauses gelehnt stehen. Die Spitzenvorhänge der Mutter, brüchig vom vielen Waschen, blähten sich im offenen Fenster.
      In diesem Moment wußte er, daß er nicht weglaufen konnte. Allein die Vorstellung von den Tränen der Mutter oder der stummen Enttäuschung des Vaters waren für ihn unerträglich.
      Lewis versetzte dem Fahrrad einen so kräftigen Fußtritt, daß es mit zufriedenstellendem Krachen umfiel. Er ließ es einfach liegen, ging hinein und in die Küche, und als er die Gesichter seiner Eltern sah, wußte er, daß die Nachricht ihm schon vorausgeeilt war.
     
    George Brent schwenkte die Arme, soweit es die Hundeleine erlaubte, und ging etwas schneller. Er brauchte die körperliche Bewegung in diesen Tagen ebenso dringend wie Sheba, denn selbst bei dieser Hitze taten ihm morgens beim Aufstehen sämtliche Knochen weh. Er verdrängte hastig die Gedanken daran, wie er den kalten feuchten Winter überstehen sollte. Hatte keinen Sinn, über etwas zu jammern, das man nicht ändern konnte, schon gar nicht an einem so herrlich heißen Sommertag. Der Winter war noch Monate entfernt, und seine größte Sorge im Moment war, sich keinen Sonnenbrand auf der Glatze zu holen.
      Sheba trottete vor ihm her, die Schnauze tief über dem Boden, um jede Witterung aufzunehmen, der kleine schwarze Körper zitternd vor gespannter Erregung. Als sie das indische Restaurant in der Manchester Road passierten, hob sie die Nase und schnüffelte geräuschvoll. Die würzigen Düfte, die aus der Küche drangen, waren George jetzt so vertraut wie einst der Geruch von Kohl und Wurst in seiner Kindheit, aber er hatte sich nie recht entschließen können, das Zeug zu probieren

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