Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
... obwohl er zugeben mußte, daß er auf das Drängen von Mrs. Singh hin wohl eines Tages seinen Widerstand aufgeben würde.
Er winkte Mrs. Jenkins in der Reinigung nebenan zu und ging wieder schneller. Er war an diesem Morgen spät dran, denn er hatte Mrs. Singh mit ihrem Fernseher geholfen, und vermutlich würde er seine Kumpel verpassen, die sich täglich zum Kaffee im ASDA-Supermarkt trafen. Allerdings war es schließlich nur fair, einem Nachbarn zu helfen, oder? Besonders einer so guten Nachbarin wie Mrs. Singh.
Er lächelte bei dem Gedanken daran, was seine Töchter sagen würden, wenn sie wüßten, was mit der Witwe nebenan lief, und bog um die Ecke in die Glengarnock. Sie dachten wohl, damit sei’s für ihn vorbei. Aber er hatte noch nicht alle Munition verschossen. Wie konnte man von einem Mann erwarten, sich nach so vielen Jahren mit regelmäßigem Sex zu kasteien? Was für ihn das Andenken an die Mutter seiner Kinder allerdings nicht schmälerte.
Als sie in die Stebondale Street kamen, zerrte Sheba an der Leine, witterte die Nähe des Parks, doch George verlangsamte seine Schritte, als sie die Wohnhäuser gegenüber dem Eingang zum Rope Walk erreichten. Sie weckten in ihm die Erinnerung an die Sendung über den Blitzkrieg, die er am Vorabend im Radio gehört hatte. Während er gemütlich bei einer abendlichen Tasse Tee in seiner Küche gesessen hatte, hatte ihn unerwartet die Flut der Erinnerungen eingeholt ... an das Geräusch der Bomber im Anflug, die Sirenen, die Zerstörung.
Er blieb stehen und befahl Sheba, sich zu setzen. Er nahm die Häuser jetzt für selbstverständlich, ging täglich gedankenlos an ihnen vorüber, aber diese kurze Reihe von einem halben Dutzend Häusern war alles, was von der Stebondale Street übrig geblieben war, die er vor dem Krieg gekannt hatte. Der Rest war zerstört worden, wie das meiste auf der Insel, wie die Häuser, in denen er aufgewachsen war.
Er war damals zu alt gewesen, um aufs Land verschickt zu werden, und hatte daher die schlimmsten Luftangriffe im Herbst und Winter 1940 miterlebt. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als er sich daran erinnerte, wie er sich an seinem siebzehnten Geburtstag in der Rekrutierungsstelle gemeldet hatte. Das eigentliche Kampfgeschehen, dessen war er sicher gewesen, war besser als das ständige Warten darauf, daß die Bomber kamen.
Wenige Monate später waren ihm die Nächte im Unterstand im Garten wie das Paradies erschienen. Aber er hatte auch das überstanden. Zumindest hatte ihn die Zeit in Italien gelehrt, die Zukunft Zukunft sein zu lassen.
Shebas ungeduldiges Kläffen riß ihn aus seinen Tagträumereien. Er ging gehorsam weiter, und bald, als er sie von der Leine und in ihre ersehnte Freiheit entließ, rannte sie in gestrecktem Galopp davon. George folgte ihr in seinem Tempo, den Rope Walk zwischen Mudchute und Millwall Park hinunter, und geriet leicht außer Atem, als es die Anhöhe zum Mudchute Plateau hinaufging. Oben verschwand Sheba aus seinem Blickfeld, während sie den Karnickelspuren durch das dichte Gras folgte. George jedoch blieb auf dem schmalen Weg, der am Rand des Parks entlangführte. Der Hund schien stets zu wissen, wo sein Herrchen war, auch wenn dieser ihn längst aus den Augen verloren hatte. Und Sheba streunte nie.
Als er das Parkgatter zum ASDA-Supermarkt erreichte, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war mittlerweile halb zehn geworden - und seine Kumpel hatten das gemeinsame Frühstück wahrscheinlich längst beendet. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und er schwitzte ... der Gedanke an eine Tasse Kaffee, auch wenn er sie allein trinken mußte, war trotzdem verlockend. Doch je länger er herumtrödelte, desto heißer würde es auf dem Heimweg werden.
Er wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch trocken und ging weiter. Auf diesem Abschnitt wuchsen die Brombeerranken bis in den Weg, verhakten sich in seinen Hosenbeinen, und er blieb einen Moment stehen, um besonders hartnäckige Brombeerdornen aus den Schnürsenkeln seiner Schuhe zu lösen. Während er noch kniete, hörte er Sheba laut aufjaulen.
Stirnrunzelnd löste er die Brombeerranke aus dem Schuhband. Daß Sheba ausgerechnet hier jaulte, kam ihm merkwürdig vor, da ihr normales Repertoire auf dieser Wegstrecke aus aufgeregtem Bellen und Kläffen bestand. Hatte sie sich vielleicht verletzt? Unruhig geworden, stand er hastig auf und starrte angestrengt auf den Weg. Der Laut hatte geklungen, als
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