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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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Straße stehen geblieben, hatte ihm zugesehen, sich im Rhythmus der Musik gewiegt. Er hatte ihrer eleganten Erscheinung, ihrem an das Schönheitsideal der Präraffaeliten erinnernden Gesicht mißtraut. Und doch hatte sie ihn fasziniert. In den folgenden Monaten hatte er nie gewußt, wann sie auftauchen würde. Ein System war nicht zu erkennen gewesen. Trotzdem hatte sie ihn stets gefunden, auch wenn er seinen Standplatz wieder einmal verlegt hatte.
      Es war ein Tag wie dieser gewesen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, ein heißer Sommertag, mit dem vagen, unbewußt wahrnehmbaren Duft, der Regen verhieß. In der Abenddämmerung kühlten Schatten die heiße, flirrende Luft etwas ab, und die Menschen strömten wie befreit auf die Straßen, rastlos und drängend, erhitzt von Getränken und vom Sommer. Und er hatte eine jazzige Improvisation of Summertime gespielt, um die Stimmung der Leute aufzugreifen.
      Sie hatte etwas abseits hinter der Menge gestanden, ihn beobachtet und sich schließlich abgewandt, ohne ihm auch nur eine einzige Münze zuzuwerfen. Sie bezahlte nie, bei keiner der folgenden Gelegenheiten, und sie sprach nicht ein Wort. Eines Abends allerdings, als sie allein gekommen war, war er es gewesen, der sie zurückrief, als sie sich zum Gehen gewandt hatte.
      Später saß sie nackt auf seinem zerwühlten Bett, sah ihm beim Klarinettenspiel zu, und er hatte sich vorgestellt, wie die Töne, von der schimmernden Masse ihres Haars magnetisch angezogen, darin verschwanden. Als er sie beschuldigt hatte, aus purer Neugier Slumtourismus zu betreiben, hatte sie nur gelacht - ein anhaltendes, herrliches Lachen - und seine Vorwürfe als »absurd« zurückgewiesen.
      Er hatte ihr geglaubt - damals. Er hatte nicht geahnt, daß die Wahrheit jenseits jedes Vorstellungsvermögens lag.
     
    »Ich gehe nicht!« Lewis Finch lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stemmte störrisch die Stiefel gegen die abgetretene Fußstütze unter dem Küchentisch.
      Seine Mutter stand am Herd, hatte ihm den Rücken zugewandt und stellte Kohl und Kartoffeln für das Abendessen des Vaters auf.
      »Du brauchst jemand, der sich um dich kümmert, wenn Dad eingezogen wird«, sagte er. »Und wenn Tommy und Edward sich freiwillig melden ...« Er wußte, welchen Fehler er gemacht hatte, als sie zu ihm herumwirbelte, den Löffel noch in der Hand.
      »Schäm dich, Lewis Finch, daß du mich so quälst. Meinst du nicht, deine Brüder machen mir nicht schon genug Sorgen mit ihrem Gerede von Uniformen und Krieg? Du tust, was ich dir sage ...« Sie verstummte, ihr schmales Gesicht von Sorge gezeichnet. »Oh, Lewis! Ich will nicht, daß du auß Land verschickt wirst, aber die Behörden behaupten, es muß sein ...«
      »Aber Cath ...«
      »Cath ist fünfzehn und hat einen Job in der Fabrik. Du bist noch ein Kind, Lewis. Und ich ruhe nicht, bevor du nicht in Sicherheit bist.« Sie kam zu ihm, strich ihm sein dickes blondes Haar aus der Stirn und sah ihn eindringlich an. »Außerdem ist bisher alles nur Geschwätz. Ich glaube keine Sekunde, daß es Krieg gibt, jetzt beeil dich, sonst kommst du zu spät in die Schule. Und nimm deine schmutzigen Stiefel von meinem Tisch«, fügte sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf seine Füße hinzu.
      »Ich bin kein Kind mehr«, schimpfte Lewis laut, während er zur Haustür hinauspolterte. Einen Moment war er versucht, einfach die Schule zu schwänzen. Es schien irgendwie nicht richtig zu sein, in einem muffigen Schulzimmer herumzusitzen ... am ersten Tag im September.
      Er sah die Stebondale Street hinauf und dachte sehnsuchtsvoll an die Molche und Kaulquappen, die in der Lehmkuhle hinter dem Zaun warteten, aber er hatte nichts, mit dem er sie hätte fangen können. Außerdem ... wenn er zu spät kam, setzte es vor der ganzen Klasse Tatzen mit dem Lineal von Miß fenkins, und seine Mutter hatte gedroht, ihn nach St. Edmund’s zu schicken, falls es wieder Ärger in der Schule gab. Mit einem Seufzer steckte er die Hände in die Taschen und trabte in Richtung Schule.
      Der Morgen verging, und durch das offene Fenster seines Klassenzimmers in der Cubitt Town School konnte Lewis die massigen, düsteren Silhouetten der Lagerschuppen entlang des Flußufers sehen. Hinter den Lagerschuppen lagen die großen Schiffe mit ihren exotischen Ladungen ... Zucker von den Westindischen Inseln, Bananen aus Kuba, Wolle aus Australien, Tee aus Ceylon ... Miß fenkins’ Geographiestunde rückte in

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