Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
letzten Moment schien er sich zu erinnern, daß seine Rechte bandagiert war, und er schüttelte Kincaid mit seiner Linken die Hand. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns«, lud er ihn ein und deutete auf den kleinen Tisch.
»Es gibt Eier und Tomatenbrot«, erklärte Adam und legte seinen Kräuterstrauß auf die Küchentheke. »Das entspricht vielleicht nicht Nathans kulinarischem Standard, aber es schmeckt.«
»Danke, ich habe gerade gegessen«, wehrte Kincaid ab und setzte sich. Vom Herd her stieg ein verführerischer Duft auf, und sein fettes Mittagessen lag ihm plötzlich doppelt so schwer im Magen.
»Aber eine Tasse Tee trinken Sie doch.« Adam griff nach dem Teekessel. »Ich setze Wasser auf.«
Kincaid beobachtete interessiert, wie Nathan protestierend aufstehen wollte, dann auf den Stuhl zurücksank. Nathan betrachtete Adam leicht konsterniert, als sei er es nicht gewohnt, so bedient zu werden. Adam allerdings bewegte sich in der Küche des Freundes, als sei er dort zu Hause. Er hackte die Kräuter und gab sie in den Topf. »Ich habe Nathan fürs Abendessen einen Gemüseeintopf gemacht«, rief Adam ihnen zu. »Er duftet großartig, oder? Leider kann ich nur vegetarisch kochen. Der arme Kerl muß es erdulden.«
Während Adam mit den Töpfen klapperte, sagte Nathan: »Vic hat oft von Ihnen gesprochen. Ich glaube, sie mochte Sie gern.«
»Tatsächlich?« erwiderte Kincaid hilflos. »Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen - bis vor kurzem. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich sehr verändert hatte. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich sie überhaupt je richtig gekannt habe.«
Nathan rieb sich geistesabwesend den Verband an der Hand. »Ich auch nicht«, murmelte er und fing Kincaids Blick auf. »Jetzt ist das nicht mehr zu ändern.«
Adam kam mit dem Teegeschirr zurück. »Wie ich gehört habe, hat die Polizei Sie angerufen.«
»Der zuständige Polizeibeamte wußte von meiner ... Verbindung zu Vic«, erklärte Kincaid und ließ sich von Adam eine Tasse Tee einschenken. »Und das war gut so. Man hatte Kit mit einer Polizeibeamtin allein gelassen.«
»Wissen Sie, wo Kit jetzt ist? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Nathan streckte eine unstete Hand nach seiner Teetasse aus, und Kincaid beobachtete, daß Adam die Tasse nicht losließ, bis sie sicher vor Nathan auf dem Tisch stand.
»Er ist bei seinen Großeltern - Vics Eltern. Und ich weiß, daß sie sich mit dem Pfarrer in Grantchester in Verbindung gesetzt haben. Er kann Ihnen vielleicht sagen, wie es Kit geht.«
»Der Pfarrer?« wiederholte Nathan, als begreife er nicht ganz.
»Wegen der Beerdigung«, sagte Adam mit einem fragenden Blick auf Kincaid.
»Es soll eine Trauerfeier geben. Morgen um ein Uhr.«
»So bald schon? Aber sie haben noch niemandem Bescheid gesagt ...«
»Ich bin sicher, daß Pfarrer Denny heute nachmittag vorbeikommen wird, Nathan«, unterbrach Adam ihn beruhigend.
»Aber es müssen doch nicht nur die Nachbarn informiert werden. Auch alle vom College, aus ihrer Fakultät. Ich muß sie anrufen ...« Er wollte aufstehen.
Adam hielt ihn am Arm zurück. »Alles in Ordnung, Nathan. Das mache ich schon. Du kannst mir eine Liste schreiben.«
»Was ist mit ihrem Mann?« fragte Kincaid. »Wissen Sie vielleicht, wo er zu erreichen ist?«
»Ian?« sagte Nathan. »Keinen Schimmer. Hat sich denn jemand mit ihm in Verbindung gesetzt?«
»Soviel ich weiß, nein. Er hat seine Spuren sehr erfolgreich verwischt, wie mir scheint.« Kincaid sah, wie Nathan angewidert das Gesicht verzog. »Wie ist er überhaupt, dieser bemerkenswerte Ian McClellan?«
»Was seine fachliche Kompetenz angeht, in Ordnung, soviel ich weiß«, erwiderte Nathan neutral.
»Aber?« drängte Kincaid. »Keine falsche Rücksichtnahme, bitte.«
Nathan lächelte. »Also gut. Ian McClellan gehört zu dieser ermüdenden Spezies Mensch, die glaubt, alles und jeden zu kennen. Der glatte >Keine-Sorge-ich-kenne-da-den-Richtigen-für-dich'-Typ ... Sie kennen die Show.«
»Ein Karrierist? Und warum sollte jemand wie er alles hinwerfen, um mit einem jungen Mädchen durchzubrennen?«
»Ehrgeizig nur im Kleinen, schätze ich«, antwortete Nathan. Er dachte kurz nach. »Ich habe den Mann nicht gut gekannt. Aber ich schätze, daß er das Alter der nagenden Selbstzweifel erreicht hatte und ein unkritischeres Publikum brauchte, um sich aufzuwerten.«
Nach dem, was Vic
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