Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
daß ich kaum noch stillsitzen kann.
So, nachdem ich zugegeben habe, wie geschmacklos ich bin, will ich Dir die nötige Erklärung geben: Morgans Großvater mütterlicherseits war ein wohlhabender Unternehmer aus Cardiff. Er hatte schon lange Krebs, und sein Tod war eine Erleichterung für alle. Jetzt heißt es, daß er seinen sämtlichen Enkeln zu gleichen Teilen eine gewisse Geldsumme hinterlassen habe. Die Testamentseröffnung findet allerdings erst in einigen Tagen statt.
Sollte stimmen, was die Familie sagt, dann erbt Morgan zwar kein Vermögen, aber immerhin genug, um ein eigenes Atelier zu gründen und die Anzahlung für unser Haus zu leisten. Du kannst dir vorstellen, was das für mich bedeutet. Unsere kleine Wohnung war für uns beide gut genug, aber jetzt, da das Baby unterwegs ist, habe ich mir schon große Sorgen gemacht, wie es weitergehen soll. Wenn wir eine richtige Familie sein wollen, brauchen wir ein Haus mit einem Kinderzimmer.
Ich schreibe wenig. Sobald ich mich an meinen Schreibtisch setze, werde ich müde wie eine zufriedene Kuh. Man hat mir gesagt, daß diese Lethargie vorübergeht und ich plötzlich vor Energie übersprühen werde. Dann will ich alles nachholen.
Ich habe gestern Daphne bei Browns zum Frühstück getroffen. Sie schwitzt über ihrem letzten Examen und ist gelb vor Neid angesichts meines gesegneten Zustandes. Ich muß zugeben, daß ich das Universitätslebengelegentlich vermisse. Aber diese Momente sind selten. Ich mache mir lieber meinen eigenen Stundenplan. Zwei Gedichte hat The New Spectator angenommen. Eigentlich sollte das meine große Neuigkeit sein, aber dann hat mich die bourgeoise Geldgier übermannt, und ich hätte es fast vergessen.
Lydia
* 12
Die ich hätte lieben können, zogen vorüber; Häuser in schattigen Gärten dösten in der Sonne, ich hörte das Flüstern nahen Wassers, sah lockende Hände winken und versinken im Grün und Gold. Und ich ging weiter.
Rupert Brooke aus >Flucht<
Der Raum schimmerte im wassergrünen Licht, das durch die Jalousien drang. Als Gemma die Augen aufschlug, dachte sie für einen Moment, sie träume noch. Erst die scharfe Buchecke, die sich schmerzhaft in ihr Kinn bohrte, belehrte sie eines Besseren. Sie war über ihrer Rupert-Brooke-Lektüre eingeschlafen, hatte von ihm geträumt.
»Ups!« sagte sie laut, richtete sich auf und klappte das Buch schwungvoll zu. Sie stand auf, zog einen Bademantel an, kochte Kaffee, setzte sich an den kleinen Tisch, sah in den Garten und dachte an den Tag, der vor ihr lag.
Schließlich kam sie zu dem Entschluß, eine Grippe zu nehmen und sich krank zu melden. Sie war bisher so gut wie nie krank gewesen. Der Chief, gleichgültig ob er ihr glaubte, konnte ihr die Krankentage nicht verwehren. Ohne Kincaid lief sowieso nichts. Also wollte sie ihre Fähigkeiten sinnvoller einsetzen, als im Büro Beschäftigungstherapie zu betreiben.
Gemma wollte mehr über Lydia Brooke erfahren. Und der naheliegendste Ansatzpunkt war das zentrale Standesamt für ganz England.
Der Besuch im Somerset House lieferte ihr die Einzelheiten über Lydia Brookes Herkunft (geboren in Brighton als Tochter von Mary Brooke und William John Brooke am 16. November 1942) und ihre Ehe (mit Morgan Gabriel Ashby in Cambridge am 29. September 1963).
Ein Anruf beim Yard verschaffte ihr Morgan Ashbys gegenwärtige Adresse. Bewaffnet mit Hazels Cambridge-Führer und einem von Hazels belegten Broten, machte Gemma sich gegen Mittag auf den Weg in die Universitätsstadt.
Morgan Ashbys Adresse lautete >Wood Dene Farm, Comberton Road<. Ein Blick auf die Karte sagte Gemma, daß die Comberton Road westlich von Cambridge unweit von Grantchester verlief. Sie hoffte, die Farm schnell zu finden, um nicht anrufen zu müssen und eine telefonische Abfuhr zu riskieren.
Sie fuhr langsam und vorsichtig, betrachtete eingehend jede Einfahrt der umliegenden Bauernhäuser, bis rechts der Straße ein altes Fachwerk-Bauernhaus und daneben ein Komplex aus gelbgestrichenen niedrigen Scheunen auftauchte. Ein großes Schild trug die Aufschrift Wood Dene Farm Arts’ Center.
Gemma stellte den Wagen in der Auffahrt neben dem Haus ab und stieg aus. Sie ließ ihren Blick kurz über die weitläufigen Gebäude schweifen und beschloß, es zuerst im Haupthaus zu versuchen. Auf ihr Klopfen rührte sich nichts. In der Hoffnung, dort mehr Glück zu haben, ging sie in Richtung Scheunen.
Als sie um
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