Debütantinnen - Roman
es abzuholen. Ich war vorher noch nie in London gewesen. Ich hatte Angst, von einer Bombe getroffen oder ausgeraubt zu werden. Und der Laden erst! So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Irene hatte mir aufgetragen, das Armband mit einer kleinen Nachricht, die sie mir mitgab, in London zur Post zu bringen. Die Sendung sollte unbedingt einen Londoner Poststempel haben. Sie wollte wohl, dass Baby glaubte, der Mann − wer auch immer er war − würde sie noch lieben.
Und es funktionierte. Eine Weile war sie ganz aus dem Häuschen. Und dann kippte ihre Stimmung, ohne Vorwarnung. Wir haben alte Zeitungen gesammelt, die ich zu Bündeln gebunden habe. Baby war damals so dick, dass sie nur bei den einfachsten Arbeiten helfen konnte. Ihre Aufgabe war es, durchs Haus zu gehen und alle Zeitungen einzusammeln, die wir vergessen hatten. Sie war eine ganze Weile weg. Irgendwann fing ich an, mir Sorgen zu machen, und ging sie suchen.«
Alice unterbrach sich.
»Sie hatte ein Rasiermesser des Colonels genommen. Ich hatte noch nie so viel Blut gesehen.«
Cate durchlief ein Frösteln. »Ist sie gestorben?«
Alice schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Wehen setzten zu früh ein.«
»Was ist aus dem Kind geworden?«
»Verstehen Sie«, Alice senkte den Blick und konzentrierte sich auf die Stelle zwischen ihren Händen, »alles sollte perfekt sein. Endsleigh sollte eine Attraktion sein …, nicht nur für Freunde, sondern für die ganze Nation …«
Cate beugte sich vor. »Ich verstehe nicht …«
»Das Kind war … Es hatte einen schrecklichen roten Fleck quer über seinem kleinen Gesicht.«
»Sie meinen ein Feuermal?«
Sie nickte. »Es lag wohl in der Familie.«
»In der Familie?« Cate runzelte die Stirn. Aber Baby war doch so schön gewesen, so makellos. Und Nick war auf klassische Weise gut aussehend.
Plötzlich erinnerte sie sich an das alte Schwarz-Weiß-Foto auf Irenes Frisierkommode: Irene und ihr Mann auf einem Veteranentreffen, nebeneinander, ohne sich zu berühren. Sie hielt die Plakette, und er lächelte stolz, die Mütze unter den Arm geklemmt, blinzelte er im hellen Sonnenlicht … und von rechts fiel ein seltsamer Schatten über seinen Kopf, unter seinem Haar kaum zu erkennen.
Nur dass es kein Schatten war.
Es war ein Fleck. Ein Feuermal.
Cate setzte sich auf.
Das Kind war gar nicht von Nick gewesen.
Am anderen Ende des Flurs waren die Klänge einer Harfe zu hören, Menschen plauderten und lachten. Doch hier war das einzige Geräusch das träge Ticken der großen Standuhr in der Ecke.
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte sie leise.
»Es gab Streit. Einen fürchterlichen Streit. Der Colonel brachte ihn weg, ich weiß nicht, wohin.« Sie schaute auf. »Baby hat ihn nie zu Gesicht bekommen. Irene erzählte ihr, er wäre tot geboren. Und dann, einige Abende danach, kam ein Auto mit einem Mann … einem großen, schlanken Mann. Am Morgen war Baby verschwunden.«
Es strengte die alte Frau sichtlich an, ihr die Geschichte zu erzählen. Ihre Schultern waren nach vorn gesunken, und das Licht in ihren Augen war stumpf, als hätte sie sich tief in sich zurückgezogen. »Es war meine Aufgabe, auf sie aufzupassen. Ich weiß bis heute nicht, was plötzlich passiert war. Ich weiß es einfach nicht.«
Cate hatte noch eine Frage. »Alice …, das Kind, lebt das Kind noch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es ehrlich nicht. Was wollen Sie jetzt machen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich habe noch nie jemandem erzählt, was ich Ihnen eben erzählt habe, nicht einmal meiner Tochter. Wollen Sie die Geschichte verkaufen? Sind Sie Journalistin?«
»Nein. Nein, natürlich nicht.«
»Warum dann?«
»Wie bitte?«
»Warum haben Sie sich dann so viel Mühe gemacht, die Vergangenheit von jemandem auszugraben, den Sie nicht einmal kennen?«
»Es tut mir leid, ich …« Cate schwieg.
Alice schaute zu ihr auf, den Ausdruck von Verlust und Verwirrung in ihren dunklen Augen.
»Ich weiß es nicht«, gestand Cate schließlich. »Sie kam mir einfach nicht vor wie eine Fremde. Eine Weile kam es mir sogar so vor, als wäre sie der Mensch, der ich gern sein würde.«
*
Ein schwarzer Krankenpfleger kam mit einem Rollstuhl um die Ecke. »Tut mir leid, wenn ich Sie störe.« Er schenkte ihr ein breites, strahlendes Lächeln. »Es ist Zeit fürs Mittagessen, Herzogin.« Er blieb stehen und beäugte sie streng. »Ich glaube, Sie haben wieder geraucht. Richtig?«
»Oh, ehrlich!«, fuhr sie schmollend auf
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