Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
sehen.
Hannah kannte einige der Reporter aus der Twin Cities beim Namen. Manche Sender hatten sogar selbst Buden aufgestellt, um Geld für die Sache zu sammeln. Ein Stück von dem Freiwilligen-Kiosk entfernt, bot der Meteorologe von Kanal Elf sein Gesicht als Zielscheibe für Sahnekuchen an. Die Star Tribune hatte sich mit der Polizeigewerkschaft zusammengetan, und machte Fingerabdrücke und Fotos von Kindern gegen einen Dollar Spende pro Kind – eine Sicherheitsmaßnahme, an die die Eltern von Deer Lake noch nie gedacht hatten.
Noble Gesten. Überwältigende Teilnahme, wirklich eine rührende Demonstration, aber auch ein makaberes Drama und sie war der Mittelpunkt.
Es ist deine Schuld, Hannah. Du willst etwas tun, das Kommando übernehmen, wie du es immer machst.
Aber sie fand einfach nicht die Kraft, ihre Führungsrolle wahrzunehmen. Sie fühlte sich ausgelaugt, verwelkt. Alles drehte sich in ihrem Kopf, sie schloß die Augen und lehnte sich an den Tresen.
»Dr. Garrison, alles in Ordnung?«
»Ich glaube, sie fällt in Ohnmacht.«
»Sollen wir einen Arzt rufen?«
»Sie ist Arzt!«
»Also, sie kann sich doch nicht selbst behandeln. Damit hätte sie wirklich eine absurde Patientin.«
»Der Spruch gilt doch für Anwälte …«
»Was für Anwälte?«
Hannah hörte Bruchstücke des Gesprächs wie aus weiter Ferne, wie durch einen langen Tunnel. Die Welt schwankte unter ihren Füßen.
»Verzeihung, Ladies. Ich glaube, Dr. Garrison braucht eine kleine Pause. Nicht wahr, Hannah?«
Sie spürte, wie eine starke Hand behutsam ihren Arm nahm und zwang sich, die Augen zu öffnen. Pater Tom erschien in ihrem Blickfeld, sie erkannte seine Besorgnis.
»Sie brauchen ein bißchen Ruhe«, sagte er leise.
»Ja.«
Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, kippte der Boden unter ihren Füßen. Er fing sie auf und führte sie über den Platz auf die Freiwilligenzentrale zu. Hannah versuchte, so gut es ging, ihre Füße in Gang zu halten. Reporter bewegten sich auf sie zu, Fotografen und Kameraleute versperrten den Fluchtweg.
»Bitte, Leute!« Pater Tom erhob seine Stimme scharf und energisch.
»Zeigt ein bißchen Anstand. Seht ihr denn nicht, daß sie für heute genug hat?«
Offensichtlich wollten sie nicht den Zorn Gottes riskieren, also machten sie den Weg frei; aber Hannah konnte das Klicken der Auslöser und das Summen der Apparate hören, bis sie den Randstein erreichten.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte Pater Tom. »Schaffen Sie’s über die Straße?«
Hannah gelang ein Nicken, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie nicht gleich zusammenbrechen würde. Um das zu verhindern, packte sie Tom McCoy um die Taille und ließ sich von ihm stützen, dankbar für seine solide Kraft.
»So ist’s gut«, murmelte er. »Halten Sie sich einfach fest, Hannah. Ich lass Sie nicht fallen.«
Er schleppte sie in die Freiwilligenzentrale, wo die Anwesenden nicht mehr auf läutende Telefone oder blinkende Cursors der Monitore achteten, sondern nur noch Augen für sie hatten. Hannah hielt den Kopf gesenkt, es war ihr peinlich, daß man sie so schwach sah, angekuschelt an den Stadtpfarrer. Doch Pater Tom ignorierte ihre Bemühungen, etwas Abstand zwischen sie beide zu bringen. Er führte sie mit entschlossener Miene zu einem ehemaligen Lagerraum, in dem man Tische und Stühle für Kaffeepausen aufgestellt hatte.
Vorsichtig setzte er sie in einen Stuhl und scheuchte die neugierigen und besorgten Zuschauer hinaus, mit der Ausnahme von Christopher
Priest, der mit den willkommenen Gaben Koffein und Zucker erschien. Der Professor stellte einen Teller voll Plätzchen auf den Tisch. Tom nahm ihm die Tasse Kaffee ab und drückte sie Hannah in die Hand.
»Trinken Sie das aus«, befahl er. »Sie sehen aus wie eine Eisskulptur. Mein Truck steht hinterm Haus. Ich geh jetzt und mach die Heizung an, dann bring ich Sie nach Hause.«
Hannah murmelte ein Danke und lächelte tapfer. Doch das Mitgefühl in seinen Augen machte dem ein Ende. Mitgefühl, nicht Mitleid, ein Angebot der Kraft seiner Freundschaft! Er strich ganz beiläufig mit dem Handrücken über ihr Gesicht, als würde er so etwas jeden Tag machen, aber Hannah verspürte ein leichtes, erregendes Kribbeln. Sie lehnte sich zurück und verpaßte sich im Geist eine Ohrfeige für ihre Reaktion. Das war Pater Tom, Priester, Beichtvater, ehemaliger Cowboy, oft zerstreut und dennoch Hirte der Schäfchen von St. Elysius. »Sie haben wieder Ihre Handschuhe vergessen«, murmelte sie.
Er zog
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