Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
seinem Sohn, hat er gesagt«, ergänzte Ruth. »Der Hund hatte so einen komischen Namen, Grimsby? Gatsby? Gizmo. Das war’s. Gizmo.«
Eine scharfe Klinge der Angst durchfuhr Mitch. Er erstarrte auf halbem Weg zum Ufer. Gizmo. Vor seinem geistigen Auge sah er die Zeichnung in Joshs Notizbuch – ein Junge und sein Hund. Ein haariger Köter namens Gizmo. »Mitch.«
Megans Tonfall ließ ihn den Kopf in ihre Richtung drehen. Er schaute hoch zu ihr. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht so farblos wie der Schnee. In einer behandschuhten Hand hielt sie einen Streifen Papier. Der Wind ließ es wie ein Band flattern.
Er rannte die Böschung hoch und nahm es mit zwei Fingern. Dann wurde ihm klar, daß er nicht gewußt hatte, was Kälte bedeutet, bis er die Worte gelesen hatte und das Blut in seinen Adern gefror.
mein Geist ist um mich Tag und Nacht,
bewacht mein Treiben wie ein wildes Tier.
aus meinem tiefsten Sinn fließt der Strom
und weint um meine Sünden ohne Unterlaß.
16 Uhr 45, -33 Grad, Windabkühlungsfaktor: -43 Grad
»Was, zur Hölle, soll das heißen?« Steiger stolzierte um den Tisch, die Hände in seine hageren Hüften gestemmt.
Megan hatte sich auf den Tisch plaziert und ließ die Beine baumeln. Das war der Konferenzraum, in dem sie Mitch das erste Mal begegnet war, als er in seiner langen roten Unterhose getanzt hatte, genau vor einer Woche. Jetzt lehnte er sich direkt vor ihr an die Wand, die Arme verschränkt. Sein Gesicht war zerfurcht von Streß, überschattet von Müdigkeit, sah eingefallen und hart aus.
Auch der Raum hatte sich verändert. Sie nannten es jetzt den Strategieraum. Über das Schwarze Brett aus Kork war eine Karte von Park County und eine vom Staat Minnesota genagelt, rote Stecknadeln markierten die Suchbereiche. An der langen Wand hing ein ein Meter breites und vier Meter langes Stück Papier, auf dem der gesamte Verlauf geschrieben stand. Alles was geschehen war, seit man Josh das letzte Mal gesehen hatte, war auf dieser Ereignis-Kurve verzeichnet. Von der roten Hauptader aus verzweigten sich gekritzelte Nebenflüsse, Notizen in roter, blauer und schwarzer Tinte. Auf das weiße Nachrichtenbrett am Ende des Raums hatte Mitch mit seiner kühnen, schrägen Handschrift den Vers der neuesten Botschaft notiert.
Hier kamen sie zusammen, um Wissen auszutauschen und neue Denkanstöße zu suchen. Weit weg vom Lärm und der Hektik der Einsatzleitung. Im Strategieraum gab es kein Telefon, keine Freiwilligen, die einem ständig in die Quere kamen, keine Presse, die sich hereindrängelte. In diesem Raum konnten sie sitzen, die neueste Botschaft lesen und dem Ticken der Uhr lauschen, während sie um ihre Entschlüsselung rangen. Das einzige, was sie mit Bestimmtheit wußten, war, daß das Zitat aus William Blakes ›My Specter‹ stammte.
»Er könnte damit sagen, daß er eine gespaltene Persönlichkeit hat«, bot Megan an, was ihr ein verächtliches Schnauben des Sheriffs einhandelte. »Oder einen Komplizen.«
»Olie Swain«, grunzte er. »Er war schuldig wie die Sünde selbst. Ihr habt doch diese Bilder gesehen, die er hatte …«
»Sie waren alt«, wandte Mitch ein. »Hier hatte er eine saubere Weste …«
Der Sheriff rollte mit den Augen, als sich ihre Blicke beim Hin- und Herirren kreuzten. »Einmal ein Hühnerhabicht, immer ein Hühnerhabicht. Glaubst du vielleicht, daß der so lange hier gelebt hat, ohne es irgendeinem Kind zu besorgen?«
»Es gab nie eine Meldung …«
»Das sagt gar nichts. Solche Scheiße passiert doch dauernd, und keiner hört was davon. Kinder sind gierig. Olie bietet irgendeinem Kind zehn Dollar für ein bißchen Rumfummeln, vielleicht denkt das Kind, das ist nicht so schlimm – nimmt das Geld und hält die Klappe. Olie war’s.«
»Und hat mit seinem Lebensblut geschworen, daß er’s nicht war«, sagte Megan spitz, nur um Steiger zu ärgern, nicht weil sie unbedingt daran glaubte.
Er warf ihr einen bösen Blick zu. »Darauf sind Sie reingefallen?« Er schüttelte den Kopf und grinste boshaft. »Na ja, wir wissen ja wohl alle, wie Sie es geschafft haben, Detective zu werden.«
»Was wollen Sie damit sagen?« knurrte Mitch gefährlich und richtete sich auf.
»Das bedeutet, daß er ein Wichser ist«, sagte Megan kühl. Sie dirigierte das Gespräch wieder in die richtigen Gleise zurück, bevor Steiger sich wehren konnte. »Er könnte sagen, daß er Gewissensbisse hat wegen seiner Taten, aber das glaube ich nicht. Er hat noch kein einziges Mal
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