Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
befürchtet hatten. Bei einer Entführung gegen Lösegeld ging es um Habgier. Habgier war etwas, mit dem man fertig werden, die man austricksen konnte. Geisteskrankheit erwies sich häufig als gefährlich und unberechenbar, aber die Irren machten irgendwann einen Fehler. Das Böse war kalt und berechnend, spielte Spiele mit unbekannten Regeln und geheimen Systemen. Es streute falsche Beweise, dann ging es seelenruhig zum Haus eines Nachbarn und bat um Hilfe bei der Suche nach dem Hund des Opfers.
Das Phantombild von Ruth Coopers frühmorgendlichem Besucher hing am Korkbrett. Ein Mann unbestimmten Alters, mit einem hageren Gesicht, das keinerlei besondere Merkmale aufwies. Die Augen waren hinter einer Sportsonnenbrille versteckt. Unter der dunklen Mütze hätten die Haare jede Farbe haben können. Die Kapuze seines schwarzen Parkas schuf einen Tunnel um sein Gesicht, so daß er wie ein Gespenst aus einer anderen Dimension aussah.
»Nicht direkt eine Fotografie, was?« meinte Megan niedergeschlagen.
»Nein, aber wenigstens glaubt Mrs. Cooper, sie könnte ihn identifizieren, wenn sie ihn wiedersieht. Sie glaubt, sie würde sich an seine Stimme erinnern.«
Bei dem Gedanken an diese arrogante Selbstsicherheit, die Verachtung, die Grausamkeit der Tat, die dieser Mann begangen hatte, um mit seiner Macht und seinem tückischen Verstand zu prahlen, ballte Mitch vor Wut die Fäuste. »Eingebildeter Sadist«, zischte er. »Mach irgendwo einen falschen Schritt – dann bin ich da und erledige dich.« »Wenn wir Glück haben, bringt ihn vielleicht sein Partner für uns zu Fall«, Megan rutschte vom Tisch. »Ich habe veranlaßt, daß Christopher Priest sich Olies Computer ansieht und schaut, ob er in die Dateien reinkommt. Olie hat an Computerkursen in Harris teilgenommen. Wenn irgendeiner seine Fallen knackt, dann kann das nur Priest. Inzwischen ist da immer noch Paul, den wir uns vorknöpfen müssen.« Bevor Mitch seinen Mund öffnete, fuhr sie fort: »Du kannst seine Verbindung zum Van nicht abstreiten«, sagte sie, hakte die Punkte einzeln an ihren Fingern ab, »und genausowenig, daß er versucht hat, das vor uns zu verheimlichen. Sein Alibi für die Nacht, in der Josh verschwand, ist nicht wasserdichter als ein Sieb. Keiner weiß, wo er heute morgen um sechs Uhr war, als Ruth Cooper sich mit unserem geheimnisvollen Fremden getroffen hat. Er hat dem Beamten vom Dienst erzählt, er würde ein bißchen herumfahren, um Josh zu suchen. Das sind ein bißchen viel Zufälle auf einmal, findest du nicht?« »Was ist sein Motiv?« fragte Mitch. »Warum soll er seinem eigenen Sohn etwas antun?«
»Das gibt es«, Megan blieb hartnäckig, »ist allgemein bekannt. Wie war das bei dem anderen Fall oben am Iron Range letztes Jahr? Was dieser Mann seiner eigenen Tochter angetan hat, war unsäglich, und er ist jeden Tag zur Suche erschienen, hat in den Medien Bitten an den Kidnapper gerichtet, hat eine zweite Hypothek auf sein Haus aufgenommen, um eine Belohnung aussetzen zu können. Es ist dort passiert und könnte sich hier wiederholen.
Hier ist nicht Utopia, Chief«, fuhr sie fort, verlor allmählich die Geduld mit seinem ewigen Widerstand, mit dieser absurden Situation.
»Das ist eine Stadt wie jede andere. Die Menschen sind genau wie die Menschen überall – einige davon gute und ein paar schlechte. Selbst im Garten Eden gab es eine Schlange. Stell dich den Tatsachen.«
Er grollte. »Du glaubst, ich stell mich denen nicht?« Seine Stimme war nur ein Flüstern und scharf wie ein Stilett.
»Ich glaube, du willst es nicht.«
»Aber wir wissen ja, daß du dazu bereit bist, nicht wahr«, sagte er anzüglich. »Das einzige, was du willst, ist deinen Hintern aus dem Feuer ziehen und einen netten Goldstern in deinen Bewertungspapieren. Selbst wenn du dabei ein paar Leute zerfetzen mußt! Der Zweck heiligt die Mittel.«
»Diesen Quatsch kannst du dir für Paige Price aufsparen«, keifte Megan und stemmte die Hände in die Hüften. »Du weißt verdammt genau, daß ich Josh zurückhaben will. Mach mich nicht an, nur weil ich dir die Wahrheit auf den Kopf zu sage. Ich glaube, für dich ist es zu verlockend, dich an Paul Kirkwoods Stelle zu versetzen – es könnte uns allerhand kosten.«
Mitch war nicht in der Stimmung, sich anzuhören, wie sie an seinem Gewissen und seinem Copinstinkt zweifelte. Er fühlte sich mehr als frustriert und holte zu einem Rundumschlag aus. »Mit anderen Worten, Agent O’Malley, ich soll vergessen, daß der
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