Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
wahnsinnig. Außerdem hatte er in der fraglichen Nacht Dienst.«
»Und was ist mit den Patienten?« fragte Megan. »Fällt Ihnen jemand ein, der mit dem Ausgang eines Falles nicht gut fertig wurde? Jemand, der ihr die Schuld zugeschoben hätte?«
Kathleen strich sich ihr dichtes, rotes Haar zurück, während sie überlegte. »Hier ist es nicht wie in der Stadt, wissen Sie. Die Menschen in Kleinstädten führen keine Prozesse wegen Kunstfehlern. Sie vertrauen ihren Ärzten und akzeptieren vernünftigerweise, daß nicht alles immer so funktioniert, wie man wünscht und daß nicht unbedingt jemand daran schuld ist.«
Megan ließ nicht locker. »Wie steht es mit Verwandten von Leuten, die es nicht geschafft haben? Ein Elternteil, das ein Kind verloren hat, vielleicht?«
»Lassen Sie mich überlegen … Die Muellers haben letzten Herbst ihr Kind durch Krippentod verloren. Als sie es einlieferten, war es bereits tot. Hannah hat eine Ewigkeit an dem Baby hingearbeitet, aber alles umsonst.«
»Waren sie wütend?«
»Nicht auf Hannah. Sie hat weit mehr getan als üblich. Kathleen überlegte weiter, ging im Geiste eine Liste durch und hakte Namen ab. »Mir fällt niemand ein, der zu so etwas Anlaß haben könnte. Hannah ist eine ausgezeichnete Ärztin, kann Leute schneller beruhigen als eine Handvoll Valium. Und sie kennt die Grenzen unseres Hauses. Sie zögert nicht, einen Patienten in ein besser ausgerüstetes Zentrum zu schicken, wenn sie es für nötig hält.« Nebenbei zog sie ihre Füße vom Tisch und stellte sie auf die Couch unter sich, nahm die Spritzenkappe aus ihren Zähnen und benutzte sie wie einen Zeigestab. »Ich erinnere mich, wie sie Doris Fletcher in die Mayo-Klinik zu Tests gebracht hat, weil ihr Mann sich weigerte, sie zu fahren.«
»Fletcher?« Megan setzte sich auf. »Verwandt oder verschwägert mit Albert Fletcher?«
Kathleen rollte die Augen. »Deer Lakes ganz eigener Anwalt des Verderbens. Die Welt fährt auf einem Schlitten zur Hölle. Frauen sind die Wurzel allen Übels. Härene Gewänder und Asche als letzter Schrei. Dieser Albert Fletcher? Ja. Die arme Doris beging den Fehler, ihn zu heiraten, bevor er ein religiöser Fanatiker wurde.« »Und er wollte sie nicht für einen Test ins Krankenhaus bringen?« fragte Megan fassungslos.
Die Schwester schnitt eine Grimasse. »Er fand, sie sollten darauf warten, daß der Herr sie heilte. Und inzwischen reckt der Herr die Hände gen Himmel und sagt: ›Ich hab euch die Mayo-Klinik gegeben! Was wollt ihr noch mehr?‹ Arme Doris.«
»Wie hat Fletcher darauf reagiert, daß Dr. Garrison seine Frau gegen seinen Willen dorthin brachte?«
»Er war stinksauer. Albert steht nicht drauf, daß Frauen sich durchsetzen. Er findet, wir sollen weiterhin abzahlen, weil Eva Mist gebaut hat.«
»Woran ist seine Frau gestorben?« fragte Megan.
»Ihr ganzes gastrointestinales System hat verrückt gespielt, schließlich versagten ihre Nieren«, erklärte sie. »Es war traurig. Keiner hat je eine konkrete Diagnose geliefert. Ich hab gesagt, Albert füttert sie mit Arsen, aber auf Schwestern hört ja keiner.«
Als Megan nicht lachte, sah Kathleen sie an. »Ich hab einen Scherz gemacht. Wegen dem Arsen … war nur ein Witz.«
»Hätte er sie töten können?«
Die Augen der Schwester weiteten sich entsetzt. »Der Diakon bricht eins der zehn Gebote? Der Himmel würde sich schwarz verfärben, und die Erde würde erbeben.«
»Gab es eine Autopsie?«
Kathleen wurde schlagartig ernst. Sie drehte die Spritzenkappe zwischen ihren kleinen Händen. »Nein«, sagte sie leise. »Die Mayo-Klinik drängte darauf. Sie konnten den Gedanken nicht ertragen, daß es eine Krankheit gäbe, für deren Erforschung ihnen die Gelder fehlten. Aber Albert verweigerte seine Zustimmung aus religiösen Gründen.« Megan starrte ihre Notizen an. Botschaften über Sünde. Eine persönliche Vendetta. Wenn es Fletcher irgendwie gelungen war, seine Frau zu vergiften, könnte er durchaus geneigt sein, Hannah für ihre Einmischung zu bestrafen. Falls er verrückt genug war, verdreht genug!
Er hatte in der Nacht, in der Josh verschwand, Religionsunterricht erteilt, aber wenn es sich um nachgewiesenen Fanatismus handelte, waren Alibis stets irrelevant. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß er Josh entführt hat?« fragte Kathleen leise. »Lieber würde ich glauben, daß Olie es getan hat und jetzt in der Hölle schmort.«
Megan hievte sich aus dem Sessel. »Ich kann mir vorstellen, daß er
Weitere Kostenlose Bücher