Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
ihre Zukunft an einem seidenen Faden hing, hatte sie große Mühe, sie einzusehen.
TAGEBUCHEINTRAG TAG 8
Heute haben sie die Jacke gefunden. Sie wissen nicht, was sie davon halten sollen. Sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Wir können ihre Panik riechen. Sie schmecken. Es bringt uns zum Lachen. Sie sind berechenbar wie Ratten in einem Labyrinth. Sie wissen nicht, in welche Richtung sie gehen sollen, also gehen sie aufeinander los und haschen nach jedem Strohhalm, in der Hoffnung auf eine Spur. Sie verdienen, was immer das Schicksal für sie bereithält. Den Zorn Gottes. Den Zorn der Kollegen, der Nachbarn, der Fremden. Zorn regnet auf die Köpfe der Schuldigen und der Narren herab. Sollten wir ihnen etwas geben und sehen, wohin es sie führt? Alle Szenarios sind durchgeplant, weit über den Augenblick hinaus. Wenn wir ihnen A geben, wird es sie zu B führen? Wenn sie auf C stoßen, was dann? Weiter zu D oder E? Uns kann man nicht überraschen. Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet, alle Möglichkeiten. Letztendlich sind wir unbesiegbar, und wahrscheinlich wissen Sie es. Das Spiel gehört uns. Das Leid gehört ihnen. Verdiente Opfer des perfekten Verbrechens.
Kapitel 29
TAG 9 8 Uhr, -31 Grad, Windabkühlungsfaktor: -46 Grad
Die Bodensuche wurde im grauen Licht eines sonnenlosen Morgens wiederaufgenommen. Der Gouverneur hatte von sich aus eine Kaltwetterausrüstung der Nationalgarde zur Verfügung gestellt: zwei Militärlaster standen hinter dem alten Feuerwehrhaus, um arktiserprobte Fäustlinge und Thermoskimasken an jeden Freiwilligen, der sie brauchte, zu verteilen.
Nach der Entdeckung von Joshs Jacke hatte die Panik in der Stadt einen neuen Höhepunkt erreicht. Mehr Freiwillige als je zuvor drängten sich im Einsatzraum des Feuerwehrgebäudes und boten wild entschlossen ihre Dienste an. Sie drängten sich zum Zentrum der Suchaktion mit dem Eifer der Massen, die Dr. Frankensteins Tore stürmten. Sie waren ergrimmt, verängstigt und des Wartens müde, wollten ihre Stadt und ihre Sicherheit zurückhaben; ihrer Ansicht nach vermochte uneingeschränkter Wille die Schlacht zu gewinnen. Mitch saß in seinem Explorer und schaute zu, wie sich die Suchteams und die Spürhunde aufteilten. Bei den meisten Fällen wurde man von einem Gefühl, einem Rhythmus geleitet, der sich beschleunigte, wenn die Ermittlungen voranschritten, Hinweise eintrafen, Spuren auftauchten und die Beweise sich häuften. Dieser Fall hatte keinen Rhythmus, und sein Gefühl hierbei war durch und durch ungut. Je tiefer sie in dem Wust von Einzelheiten vordrangen, desto verlorener und desorientierter wurden sie.
Vielleicht gab es zwei Kidnapper, und Olie war einer von ihnen gewesen. Oder auch nicht. Paul könnte beteiligt sein, aber wie und warum? Albert Fletcher desgleichen. Möglicherweise war er wahnsinnig. Hatte er Olie gekannt, oder war er der Komplize von jemandem, den
sie noch gar nicht in Betracht gezogen hatten? Gab es überhaupt einen Komplizen?
Ein stämmiger Sergeant der Minneapolis-K-9-Abteilung führte seinen Schäferhund in ein Schilfdickicht. Der Hund sprang auf die Böschung, schwanzwedelnd, die Nase im Schnee. Uniformierte Beamte trieben Freiwillige aus der Spur, Mitchs Puls begann zu pochen. Der Hund hatte scheinbar eine Witterung aufgenommen. Er trabte nach Süden, weg von den Häusern, den Snowmobileweg entlang und dann die Mill Road hinauf, die in Richtung Osten in die Stadt führte und nach Westen zum Farmland. Er blieb stehen, wendete den Kopf nach rechts, sah zu dem Feld auf der anderen Seite der Straße, wo aschblonde Maisstauden ungeerntet erfroren waren, Reihe an Reihe, ein Vermächtnis des nassen Herbstes und frühen Winters.
Ende der Witterung! Wie jeder andere Funken Hoffnung, den sie gehegt hatten, war sie verflogen. Mitch legte den Gang in seinem Truck ein und fuhr zu Albert Fletchers Haus in einer halben Meile Entfernung.
Bei Tageslicht erschien es ein phantasieloses schachtelähnliches Bauwerk, in düsterem Grau gestrichen. Keine weihnachtlichen Überreste zierten Tür oder die Dachrinnen. Albert war offensichtlich kein Freund auffälliger Dekorationen. Mitch erinnerte sich, daß es in St. Elysius einen Aufstand wegen der Adventsdekoration gegeben hatte. Die Damengilden stimmten dafür, der Diakon dagegen, Mitch hatte sich nicht weiter drum gekümmert. Er verbrachte die Sonntagmorgen mit seiner Tochter und seinen Schwiegereltern in der evangelischen Kreuz-Christi-Kirche, während der Predigt übte
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