Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
zahnlückige Grinsen. Die strahlenden Augen und das zerzauste Haar. Das Foto verschwand, und plötzlich wurde Josh auf der Leinwand lebendig, dank einem Videoband. Er spielte einen Hirten bei einem Weihnachtsspiel, posierte mit Lily vor dem Weihnachtsbaum. Linda Ronstadts süße Sopranstimme ertönte, während die Bilder wechselten.
»Somewhere Out There«, die Worte ergreifend vor Sehnsucht, getragen von Hoffnung.
Megan biß sich auf die Lippe. Verdammt, verdammt, verdammt. Sie hätte das Interview überstehen können – schließlich hatte auch sie Hannah interviewt -, aber das Lied hätte genausogut Josh selbst sein können, ein Ruf aus dem Zwielicht, in das er vor zehn Tagen verschwunden war. Das Video verwandelte ihn in einen lebendigen Jungen, voller Energie und Launen und Zärtlichkeit für seine kleine Schwester. Sein unschuldiges Gesicht, gekoppelt mit dem kindlichen Vertrauen im Text dieses Liedes, entrissen den Fall dem Reich der Arbeit und machten ihn zu ihrer eigenen Sache.
Der Fall, von dem man sie dispensiert hatte.
Laß es nie, niemals persönlich werden, O’Malley.
Zu spät. Denn diese harte Wahrheit vermochte die Emotionen nicht mehr zum Schweigen zu bringen. Pandoras Büchse war aufgebrochen, sie konnte nur wild dagegen ankämpfen, daß nicht alle Gefühle
als Sturzbach aus ihr herausbrachen. Sie blinzelte heftig und klammerte sich an einen Hemdzipfel, der ihre Schenkel bedeckte. Wenn sie fest genug drückte, würde sie es vielleicht schaffen, nicht zu weinen. Dann legte sich Mitchs Hand auf die ihre, umfing sie, sandte stumme Botschaft von Verständnis und Empathie.
Verflucht sollt du sein, O’Malley, die dämliche Anfängerin! Warum mußt du nachgeben? Du solltest inzwischen härter sein.
Sie holte zitternd Luft und kämpfte gegen die Tränen an. »Verdammt«, keuchte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich wollte diesen Scheißkerl kriegen.«
»Natürlich«, bestätigte Mitch.
»Er ist ganz nahe. Ich fühle es. Ich will ihn so sehr, daß es weh tut.« Aber das war jetzt Nebensache, wie dringend sie ihn haben wollte, oder wie mitfühlend Mitch sich erwies. Sie war aus dem Fall raus. DePalma erwartete, daß sie den Ball fallen ließ und ins Hauptquartier zurückrannte: Dort würde der Superintendent sie persönlich zur Schnecke machen und sie dann mit einem Rudel Anwälte in einen Raum sperren und deren Gesellschaft ertragen, während sie Pläne für die Schlacht gegen Paige Price und ihre juristischen Dobermänner schmiedeten. Genauso, wie sie einfach das Leben fallen lassen sollte, das sie in Deer Lake begonnen hatte. Vergiß die Leute, das waren nur Namen in Berichten. Vergiß die Wohnung, sie hatte nicht lange genug drin gewohnt, um es Zuhause zu nennen. Vergiß Mitch Holt. Er war nur ein anderer Cop und sie doch nicht so blöd, sich mit einem Cop einzulassen! Vergiß Josh; er gehörte jetzt in die Verantwortung des Hundeboys.
Josh sah sie vom Bildschirm an, mit großen Augen, Sommersprossen und einem Zahnlückengrinsen. Das bißchen Kontrolle, was Megan noch geblieben war, zerbrach angesichts ihrer Bewegtheit und ihres Zorns. Sie rappelte sich von der Couch auf. Fluchend, weinend schlug sie gegen einen Stapel Taschenbücher, die auf einer Kiste balancierten, schleuderte sie quer durch den Raum. Die Katzen sprangen von ihren Plätzen und rasten den Gang hinunter, um sich in Sicherheit zu bringen. Megan drehte sich um und holte gegen ein anderes Ziel aus. Dann drehte sie sich wieder, schwang ihre Faust und traf genau Mitchs Brust.
»Verdammt! Gottverdammte Scheiße!« schrie sie.
Mitch packte sie an den Oberarmen, und sie fiel gegen ihn. Ihre Schultern bebten von der Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten.
»Heule endlich, verdammt noch mal«, befahl Mitch und nahm sie in die Arme. »Du hast ein Recht darauf. Laß los und weine. Ich werde es niemandem verraten.«
Als die Tränen kamen, drückte Mitch seine Wange auf ihren Kopf, flüsterte ihr zu und entschuldigte sich für Dinge, die außerhalb seiner Kontrolle lagen.
Alles war ihnen entglitten: All das von einem Wahnsinnigen in Gang gebracht in einem Augenblick, mit einer Tat, die so viele Leben veränderte, und keiner von ihnen konnte dem Einhalt gebieten. Sie würde ihren Job verlieren, ihr Zuhause, ihre Chance, irgendwo hinzugehören … aber diesen Augenblick hatte sie, und den wollte sie nicht loslassen.
Sie sah Mitch an, die Falten, die Zeit und Schmerz in sein Gesicht gegraben hatten, die Augen, die zuviel gesehen
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