Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
murmelte eine Begrüßung. Die Stimme, die ihr antwortete, war leise und sanft, Balsam für ihre geschundenen Nerven.
»Hannah? Ich bin’s, Tom – Pater Tom. Ich dachte mir, du brauchst vielleicht jemanden zum Reden.«
»Ja«, flüsterte sie mit einem zittrigen Lächeln, »das wäre schön.«
TAGEBUCHEINTRAG TAG 10
Wie Shakespeare sagte:
Die ganze Welt ist Bühne,
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler:
Sie treten auf und gehen wieder ab …
Und wir sind die Regisseure, die Puppenspieler,
die an den verborgenen Schnüren ziehen.
Und so von Stund zu Stund ein Reifen und ein Reifen
Und so von Stund zu Stund ein Faulen und ein Faulen
Für uns; dran hängt eine Geschichte.
Zeit für einen neuen Akt und einen neuen Dreh im Plan
Wir sind brillant.
Kapitel 34
TAG 11 9 Uhr 45, – 5 Grad, Windabkühlungsfaktor: – 11 Grad
Am Samstag stieg die Temperatur, und der Himmel kam herab. Dichte bleifarbene Wolken hingen tief über der wogenden, bewaldeten Landschaft, und es fiel feiner Pulverschnee. Im Kielwasser der arktischen Temperaturen und der finsteren Launen, die sie gezeitigt hatten, waren die Rundfunkmeteorologen aus dem Staat geflüchtet und hatten die Sturmvorhersagen den Wochenendaussagern überlassen.
Megan hörte nur mit einem Ohr hin. Blizzard? Wenn er schnell genug zuschlug, könnte er sie vielleicht daran hindern, nach St. Paul zu fahren. Wenn sie lange genug in der Stadt herumfuhr, um Albert Fletcher zu suchen … Wenn diese alte Scheißkarre den Geist aufgäbe … Ein Dutzend Szenarios flitzten ihr durch den Kopf wie bei einem Kind, das unbedingt Schule schwänzen will. Wenn sie nur noch heute bleiben könnte … Aber DePalma wollte sie aus Deer Lake raushaben. Er hätte nie an einem Samstag angerufen, wenn er nicht selbst in Nöten wäre. Anwälte gab es heute bestimmt nicht, das Bureau würde den Teufel tun und ihnen den ein einhalbfachen Stundensatz bezahlen. Sie konnten sie schlicht und einfach nicht mehr dulden in der Stadt, bevor sie noch mehr Schaden anrichtete.
Sie mußte fahren, wenn sie einen schäbigen Rest ihrer Karriere retten wollten. Hinfahren, ein paar Hintern küssen, bereuen und Buße tun. Die Vorstellung blockierte ihren Hals wie ein Pelzball. Sie war ein verdammt guter Cop. Das müßte doch irgendwie zählen, aber dem war nicht so.
Mit ihrem Fäustling rieb sie über die empfindliche Stelle an ihrem rechten Auge. Die Kopfschmerzen waren immer noch da, bedrohten sie, zogen sich dann in einem erschöpfenden Zweikampf mit ihrem
angekratzten Durchhaltevermögen wieder zurück. Sie hätte im Bett bleiben sollen, aber alleine wollte sie da nicht sein. Sie fuhr schon seit dem Morgengrauen herum und kaute an dem Desaster, das sie aus ihrem Leben gemacht hat. Du hättest diesen FBI-Posten annehmen sollen, O’Malley. In Memphis könnte sie jetzt sein, tausend Meilen entfernt von Kälte und Schnee, tausend Meilen entfernt von einem gebrochenen Herzen.
Dieses Herz wünschte sich immer noch eine Fortsetzung. Ihr Kopf wußte es besser. Was konnte sie Mitch bieten? Sie war nicht zur Ehefrau geschaffen, wußte nichts darüber, wie man ein fünfjähriges Mädchen aufzog. Eigentlich wollte sie nur eins: Cop sein. Dank ihres Jähzorns würde man ihr das auch noch nehmen. Panik schnürte ihr die Brust zusammen.
In dem Glauben, sie würde noch schlafen, hatte Mitch sich früh fortgeschlichen. Er mußte die Fahndung überwachen. Laut der Informationsfetzen, die Megan über Polizeifunk empfing, hatte man immer noch keine konkrete Spur von Albert Fletcher. Einige Bürger hatten angerufen und Vermutungen geäußert, aber bis jetzt hatte sich daraus nichts ergeben. Deer Lake wimmelte vor Streifenwagen der Bundes-, der Staats- und der Bezirkspolizei. Die Hubschrauber kreisten wie Geier über der Stadt.
Megan schüttelte erstaunt den Kopf. Sie hatte Fletcher von Anfang an als schrägen Vogel eingestuft, aber niemals geargwöhnt, daß er so ausrasten könnte, wie Mitch ihr gestern abend schilderte. Kein Zweifel, der Diakon hatte mehrere kräftige Sprünge in der Schüssel. War er verrückt genug, um Josh zu kidnappen, um einen eigenen privaten Ministranten zu besitzen? Ja. Aber dazu hätte er Hilfe gebraucht. An diesem Abend hatte er in St. Elysius über Sünde und Verdammte referiert. Sie versuchte, sich ihn und Olie als Komplizen vorzustellen, aber das gelang ihr nicht. Fletcher war ein Einzelgänger. Andernfalls hätte er seine gräßlichen Geheimnisse nicht so lange
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