Deer Lake 02 - Engel der Schuld
vergessen.
»Zielstrebig.«
Gefährlich war das Wort, für das sie sich entschied. Gefährlich für sie auf eine Art, mit der sie bei einem Mann nicht gerechnet hatte.
»Verdammt, mir gefällt Ihre Art zu kämpfen, Counsellor«, sagte er leise. »Wir wär's jetzt mit dem Drink?«
Die Einladung in seinem Gesichtsausdruck war wesentlich intimer, als es dem Angebot eines Glases Brandy entsprach. Daß er so nahtlos vom Streit zur Verführung übergehen konnte, als ob es keine Rolle spielte, was sie dachte, beunruhigte sie.
»Auch wenn wir nicht einer Meinung sind, heißt das noch lange nicht, daß wir uns nicht zivilisiert benehmen können«, sagte er. »Ich mag Sie, Ellen. Sie sind gescheit, clever, und Sie sagen, was Sie denken.« Er lachte. »Ich dachte, der gute alte Rudy kriegt einen Schlaganfall in Ihrem Büro. Und Sie haben einfach so dagestanden, kühl bis ins Herz. Was halten Sie davon, daß wir uns eine nette, ruhige Bar suchen mit einem Kamin, vor dem wir uns die ganze Nacht mit Wortgefechten um die Ohren schlagen können?« Der Vorschlag wurde mit einem Lächeln serviert, das eine Nonne dazu gebracht hätte, sich ihrer Kleider zu entledigen.
Deshalb war er eine Berühmtheit, beschloß Ellen, nicht nur ein Name auf einem glänzenden Buchumschlag. Selbst die Luft, die ihn umgab, vibrierte vor Sex-Appeal.
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee, Mister Brooks. Es hätte einen zu starken Beigeschmack von Fraternisieren mit dem Feind«, sagte sie, entfernte sich von ihm und setzte ihre Brille auf – ein Schild gegen seinen Charme.
»Ich bin nicht der Feind. Ich bin nur ein Beobachter.«
»Sie mögen vielleicht nicht der Feind sein, aber ein Feind sind Sie trotzdem. Ich kann nicht differenzieren zwischen dem, der Sie sind, und dem, was Sie sind, Mister Brooks.« Sie sah ihn direkt an. »Vielleicht gestattet es Ihnen Ihr Gewissen, das auszuschlachten, was in dieser Stadt passiert ist – oder vielleicht haben Sie kein Gewissen. Wie dem auch sei, ich werde es nicht gutheißen, und ich möchte kein Teil davon sein.«
Damit ließ sie ihn zum zweiten Mal an diesem Tag einfach stehen und ging.
Jay lehnte sich an den Schreibtisch des Richters und stieß einen leisen Pfiff aus. Ihm waren schon öfter Türen vor der Nase zugeschlagen worden. Das war nichts Neues. Es gehörte zum Revier, in dem er sich bewegte. Manchmal waren Leute bereit, an einer Story mit ihm zu arbeiten, und manchmal nicht. Wenn er wirklich heiß auf die Story war und man ihm die Vordertür vor der Nase zuschlug, versuchte er es an der Hintertür. Wenn die Hintertür geschlossen war, stieg er durchs Fenster. Wenn er durchs Fenster nicht hineinkam, ging er durch den Keller. Wenn er wirklich heiß auf die Story war, bekam er sie auch. Er brauchte Ellen Norths Kooperation nicht. Er konnte die Story aus einem Dutzend verschiedener Blickwinkel schreiben.
Aber er wollte Ellen Norths Kooperation. Zum Teufel, er wollte Ellen North.
Er wußte sehr wohl, daß man sich nicht mit einer Quelle einlassen durfte. Das Überschreiten dieser Grenze war, wie in ein Schlangennest zu treten – eine Einladung zum Desaster. Es würde seine Glaubwürdigkeit gefährden, seine Sicht auf die Story verzerren.
Er spielte dieses Spiel zwar mit harten Bandagen, aber er spielte es nach den Regeln. Eine hatte er bereits gebrochen – sich nie auf einen aktuellen Fall einzulassen. Damit forderte man den Ärger geradezu heraus. Natürlich hatte Onkel Hooter recht gehabt, als er sagte, daß Jay den Ärger vielleicht nicht direkt suchte, aber immer zu Hause war, wenn er an seine Tür klopfte.
Der Fall hatte ihn gepackt und hielt ihn gefangen. Er wollte zum Insider werden, wollte wissen, warum es passiert war und was es den Menschen, deren Leben davon berührt wurde, angetan hatte. Er wollte beobachten, wie sich alles entwickelte – der Prozeß, die Strategie von Anklage und Verteidigung, die Reaktionen der Öffentlichkeit, wenn Partei ergriffen wurde. Etwas Wichtiges passierte hier. Das war nicht irgendein Verbrechen; es war ein Punkt am Scheideweg, ein kritischer Punkt für das kleinstädtische Amerika. Er verspürte das Bedürfnis, diesen Moment einzufangen.
Und er wollte – in einem schattigen Winkel seines Verstandes gab er es zu – Abstand zu einer anderen Krise gewinnen, einer Krise, von der er sich abgewandt hatte, bevor sie ihn in ihren Schlund saugen konnte. Dieser Fall war jetzt der Punkt, auf den er sich konzentrierte. Er mußte es schaffen, hineinzukommen
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