Deichgrab
den großen Sonnenschirmen.
»Darf ich dich noch zum Essen einladen? Sozusagen als Dank für die Stadtführung.«
»Gerne.«
Sie wählten einen Tisch im Inneren des Lokals. Tom bestellte eine Flasche Rotwein. Er lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Wie gerne hätte er jetzt mit seiner Hand ihr Gesicht berührt, den traurigen Ausdruck, der immer noch in ihren Augen lag, fortgewischt. Es lag ein Knistern in der Luft und Marlene versenkte ihren Blick rasch in die Speisekarte. Die Stimmung zwischen ihnen war ihr nicht unangenehm, sie wusste nur nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Als sie wieder aufblickte, schaute er sie immer noch an. Das Blut schoss ihr in die Wangen.
Unsicher fragte sie: »Und, was nimmst du?«
Am liebsten hätte er geantwortet: »Dich«, aber das traute er sich nicht. Flüchtig blickte er auf die Karte und sagte: »Den Heilbutt mit Kartoffeln.«
Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, fragte Marlene: »Was wirst du jetzt mit dem Haus machen?«
»Ich glaube, ich werde es behalten. Allerdings gibt es da vorab noch andere Sachen zu klären.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Mein Onkel soll ein Mörder gewesen sein.«
Er vertraute ihr und hatte das Gefühl, mit ihr darüber sprechen zu können. Das bestätigte sich, als er in ihre Augen blickte. Da war keine Ablehnung oder Erschrockenheit, nur wahres Interesse. Deshalb erzählte er ihr alles, was er selbst bisher in Erfahrung hatte bringen können. Aufmerksam hörte sie ihm zu, bis er seine Ausführungen mit den Worten: »Und ich finde heraus, was damals wirklich passiert ist. Das bin ich Onkel Hannes schuldig«, beendete.
Es herrschte eine absolute Stille an ihrem Tisch. Marlene brach das Schweigen.
»Das ist ja eine unglaubliche Geschichte.«
Während des Essens stellte sie ihm immer wieder Fragen. Er versuchte alle zu beantworten.
»Aber wie willst du der Wahrheit auf die Spur kommen, wenn die Leute nicht mit dir sprechen? Ich meine, die Menschen hier oben sind gegenüber Fremden nicht gerade sehr mitteilsam. Das ist kein Geheimnis. Aber um herauszufinden, was wirklich geschehen ist, bist du darauf angewiesen, mit den Leuten zu kommunizieren. Wahrscheinlich können nur sie dir erzählen, was damals passiert ist.«
»Es gibt schon welche, die mit mir sprechen. Haie zum Beispiel. Und irgendwann macht jeder einmal einen Fehler. So einen Mord kann man nicht einfach vertuschen. Die Leute im Dorf haben etwas zu verbergen, das liegt für mich auf der Hand. Warum sollten sie sich sonst so merkwürdig benehmen?«
»Vielleicht weil sie dich für den Neffen eines Mörders halten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit der Aussage von Elke Ketelsen? Wie erklärst du dir das, was sie ausgesagt hat?«
»Da gibt es eine Menge Gründe. Vielleicht war sie tatsächlich davon überzeugt, dein Onkel habe diese Britta umgebracht. Vielleicht stimmte es ja sogar, was sie gesehen hatte. Oder sie hatte Angst.«
»Angst? Wovor?«
Sie zuckte mit den Schultern.
Der Kellner kam an ihren Tisch und räumte das Geschirr ab.
»Und was ist, wenn dein Onkel doch der Mörder von Britta war. Was machst du dann?«
Das war eine berechtigte Frage, aber er hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht. Wie würde er reagieren, wenn Onkel Hannes doch schuldig gewesen war?
»Ich weiß es nicht.«
Beim Abschied berührte sie leicht seine Lippen. Nur kurz. Schnell drehte sie sich um und ging. Er blickte ihr nach. Mit seinen Fingern fuhr er über seine Lippen, versuchte, die Berührung ihres Mundes einzufangen. Er lächelte. Sie war schon lange in einer der kleinen Gassen verschwunden, als er sich endlich umdrehte und zu seinem Wagen ging. Noch einmal ließ er seinen Zeigefinger über seine Lippen wandern, bevor er in seinen Wagen stieg.
Haie bestellte sich ein weiteres Bier und einen Korn.
Nachdem Elke ihm die Wahrheit gesagt hatte, war er aufgestanden und gegangen. Er hatte sie nicht in den Arm genommen und auch nicht sagen können, dass alles halb so schlimm sei. Zu ungeheuerlich war die Geschichte.
Zu der Zeit, als Britta plötzlich spurlos verschwunden war und der Prozess gegen Hannes angestanden hatte, war eines Tages ein Wagen vor ihrem Haus vorgefahren. Elke konnte sich nicht mehr genau an den Wagen erinnern, nur an das ausländische Kennzeichen. Ein Mann war ausgestiegen, klein und untersetzt. Sie hatte ihn nicht gekannt. Er hatte ihr gedroht, wenn sie nicht gegen Hannes aussagen würde, gäbe er ihr kleines Geheimnis preis.
Weitere Kostenlose Bücher