Deichgrab
über den Tisch hinweg an. Die Traurigkeit war aus ihren Augen verschwunden. Mit interessiertem Blick schaute sie ihn an und fragte:
»Was machen Sie hier im Norden?«
»Mein Onkel ist verstorben. Ich kümmere mich um seinen Nachlass.«
»Das tut mir leid.«
»Wir hatten keinen Kontakt mehr in den letzten Jahren. Ich habe als Kind bei ihm gelebt, aber seitdem ich ausgezogen bin, habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Warum nicht?«
Tom zuckte mit den Schultern. Er nahm einen Schluck aus der hohen, schlanken Porzellantasse. Ein kleiner Bart aus Sahne blieb an seiner Oberlippe zurück. Marlene lächelte, deutete mit ihrem Zeigefinger darauf. Er fuhr mit der Zunge die Konturen, die sie ihm angedeutet hatte, nach.
»Er hatte ein kleines Häuschen hier oben. Ich überlege, es zu behalten.«
»Wollen Sie hierher ziehen?«
»Vielleicht. In München hält mich nichts. Arbeiten könnte ich auch hier.«
Seine Beziehung mit Monika hatte er vollkommen ausgeblendet. Erst Marlenes Frage, ob denn in München niemand auf ihn warten würde, erinnerte ihn daran, dass er eigentlich in festen Händen war. Trotzdem schüttelte er den Kopf und wechselte das Thema.
»Es ist erstaunlich, wie viel Sie über das Land und die Leute hier wissen.«
Ihre Wangen nahmen eine leicht rötliche Färbung an. Verlegen über sein Kompliment, senkte sie den Blick.
»Ich bin fasziniert von dem Stolz der Menschen hier. Wenn du erst einmal verstanden hast, wie sehr die Leute hier mit der Natur ...«, sie brach mitten im Satz ab.
»Entschuldigung«, meinte sie verlegen.
»Ich heiße Tom.«
Sie lächelte, stieß mit ihrer Tasse leicht gegen seine.
»Angenehm, Marlene.«
Statt eines Kusses reichten sie sich die Hände über den Tisch. Länger als die Situation es eigentlich erforderte, hielt er ihre Hand. Dabei blickte er ihr tief in die Augen. Er hätte ihr am liebsten gesagt, wie sehr er sie mochte und die Zeit mit ihr genoss. Stattdessen forderte er sie auf, ihren Satz zu beenden.
»Das Meer bestimmt hier oben das Leben der Menschen, ihre Geschichte und ihre Mentalität. Die Weite der Landschaft, die faszinierende Natur, aber auch das Wissen, sie nicht wirklich beherrschen zu können.«
Er glaubte zu verstehen, was sie damit meinte.
Zu gern hätte er die Zeit einfach angehalten. Zu schnell vergingen die Stunden, wenn sie zusammen waren. Als er auf seine Uhr blickte, war es bereits nach achtzehn Uhr.
»Und was stellen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend an?«
Sie sah ihn überrascht an.
»Ich weiß nicht.«
Auch sie hatte die Zeit mit ihm genossen. Er war ihr sympathisch. Aber sie war unsicher. Unsicher darüber, was sie für ihn empfand.
»Ich bleibe heute Nacht in Husum«, sagte sie. »Morgen gibt es einen Vortrag am Friesischen Institut.«
»Gut, dann auf nach Husum!«
Auf dem Nachhauseweg vom Krankenhaus rief Frank bei Meikes Freundin an. Er wollte noch einmal mit seiner Frau sprechen.
Mira war nicht besonders freundlich zu ihm. Sie sagte nur: »Ich frage sie.«
Er hörte, wie im Hintergrund gesprochen wurde, konnte jedoch nicht verstehen, was gesagt wurde.
»Hallo?,« rief er in das Mikrofon seiner Freisprechanlage, aber nichts geschah. Er legte auf.
Als er auf die Auffahrt vom Hof bog, sah er den Mercedes auf dem Vorplatz stehen. Er kannte den Wagen nicht. Schnell parkte er seinen Wagen vor dem Scheunentor und stieg aus.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Eilig rannte er die Treppe hinauf.
»Hallo?«
Die Tür zum Zimmer seines Vaters war geöffnet. Herr Crutschinow saß vor dem kleinen Eichensekretär und wühlte zwischen Unterlagen, die er aus einer der Schubladen genommen hatte.
»Was machen Sie da?«
Ganz langsam hob der Mann am Schreibtisch seinen Kopf, sah ihn an.
»Ihr Vater hat mich gebeten, ein paar Unterlagen für ihn zu holen.«
Er blickte Frank an, als wäre es das Normalste von der Welt.
»Davon hat er mir aber nichts gesagt.«
»Nicht? Wahrscheinlich hat er es nur vergessen. Er hat mich extra beauftragt, die Unterlagen so schnell wie möglich zu ihm ins Krankenhaus zu bringen.«
»Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«
»Ihr Knecht war so freundlich, mich hereinzulassen.«
»Bitte gehen Sie jetzt!«
»Aber es scheinen wichtige Unterlagen zu sein. Ihr Vater hat darauf bestanden, die Dokumente noch heute ins Krankenhaus gebracht zu bekommen.«
Er blätterte weiter zwischen den Papieren herum.
»Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei!«
»Das würde ich mir an Ihrer Stelle gut
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