Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
gewesen sei. Alles nach überaus genauen Instruktionen, die Wheeler schriftlich hinterlassen habe.
Des weiteren legte Frau Berry mir ein schon etwas älteres Farbfoto von Peter bei (›Ich denke mir, Sie werden das gerne aufheben‹, schrieb sie). Jetzt hängt es gerahmt in meinem Arbeitszimmer, und ich betrachte es häufig, damit sein Gesicht mir im Lauf der Zeit nicht immer mehr verschwimmt und damit ihn noch jemand sieht. Da ist er, mit dem Talar eines Doctor of Letters . ›Er ist aus scharlachrotem Tuch mit Besätzen oder Umschlägen aus grauer Seide, wie auch die Ärmel‹, erläuterte Frau Berry. ›Der von Sir Peter hatte schon Dr. Dacre Balsdon gehört, und das Grau war stellenweise ausgebleicht, so daß ein schmutziger Blauton oder ein ins Grau tendierendes Rosa durchschien: Wahrscheinlich war der Talar in den Regen gekommen. Ich habe das Foto am Radcliffe Square geknipst, an dem Tag, als er den Titel verliehen bekam. Schade, daß er den Doktorhut gerade abgelegt hatte.‹ Tatsächlich verwendete sie den unübersetzbaren Ausdruck › mortarboard ‹. Unter dem Talar trug Peter den dunklen Anzug mit weißer Fliege, der in seiner Gesamtheit ›subfusc‹ heißt und für bestimmte feierliche Anlässe unabdingbar ist. Und so hängt er in meinem Arbeitszimmer, für immer festgehalten an einem fernen Tag zu einer Zeit, als ich ihn noch nicht kannte. Eigentlich hatte er sich von damals bis zu seinem Ende nicht sehr verändert. Ich erkenne ihn ohne jeden Zweifel, wie er da aus leicht zusammengekniffenen Augen blickt, die Narbe auf der linken Kinnseite ist deutlich zu sehen. Am Ende habe ich ihn nicht gefragt, wie er sie sich zugezogen hat. Ich weiß noch, daß ich es an jenem letzten Sonntag nach dem Mittagessen kurz erwog, als ich mich bereitmachte, zum Bahnhof zu gehen und nach London zurückzufahren und er mich zur Tür begleitete, stärker denn je auf seinen Stock gestützt. Da fiel mir auf, daß seine Beine gebrechlicher wirkten als beim Mal zuvor, doch zweifellos waren sie noch imstande, ihn durch das Haus und den Garten zu tragen und selbst hinauf in sein Schlafzimmer im ersten Stock. Aber ich sah ihn sehr erschöpft und wollte ihn nicht dazu nötigen, noch mehr zu sprechen, und so beschloß ich, ihn etwas anderes zu fragen, nur noch eines, als ich ihm Lebwohl sagte:
›Warum haben Sie mir das alles heute erzählt, Peter? Nicht daß Sie mich mißverstehen, für mich war das hochinteressant, ich würde am liebsten noch sehr viel mehr erfahren. Aber es wundert mich, daß Sie auf so viele Dinge zu sprechen gekommen sind, wo wir uns doch seit vielen Jahren kennen, in denen Sie über nichts davon auch nur ein Wort verloren haben. Und außerdem haben Sie mir einmal gesagt: »In Wirklichkeit sollte man niemals etwas erzählen«, erinnern Sie sich noch?‹
Wheeler lächelte mich mit einer Mischung aus Melancholie und Boshaftigkeit an, beides war ganz schwach, fast nicht wahrnehmbar. Er faltete die Hände über dem Stock und antwortete:
›So ist es, Jacobo, man sollte niemals etwas erzählen … bis man selbst Vergangenheit ist, bis zu seinem Ende. Das meine schreitet mit leichtem Schritt voran und klopft schon beharrlich an meine Tür. Du mußt anfangen, diese Schwäche zu verstehen, eines Tages wird sie auch dich erfassen. Und wenn dieser Moment da ist, gilt es zu entscheiden, ob etwas für immer ausgelöscht sein soll, als wäre es nie geschehen und hätte in der Welt keinen Platz gefunden, oder ob man ihm eine Chance gibt, zu …‹ Er zögerte kurz, suchte nach dem Wort, er fand wohl nicht das richtige, er begnügte sich mit der Annäherung: ›… zu schweben. So daß es noch jemand untersuchen oder erzählen kann. Und es nicht völlig verlorengeht. Verstehe mich richtig: Ich bitte dich damit um nichts, weder um dies noch um das Gegenteil. Ich bin nicht einmal überzeugt, richtig gehandelt zu haben, das heißt, so wie ich es wollte. Auf diesem letzten Stück Weges weiß ich nicht mehr, was meine Wünsche sind oder ob ich welche habe. Es ist merkwürdig, der Wille scheint zum Ende hin gehemmt zu sein, sich zu entziehen. Sobald du durch diese Tür gehst und dich entfernst, werde ich es wahrscheinlich bereuen. Aber ich weiß, daß Mrs. Berry, der das meiste davon bekannt ist, zu niemandem ein Wort sagen wird, wenn ich nicht mehr da bin. Bei dir dagegen bin ich mir nicht so sicher, und so überlasse ich die Wahl dir. Möglicherweise wäre es mir lieber, wenn du schwiegest, das kann gut sein. Doch gleichzeitig
Weitere Kostenlose Bücher