Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
das wissen. Es schien mir nicht recht‹ – ›fair‹ war das Adjektiv –, ›daß Sie ihn noch am Leben wähnen könnte, wenn das nicht mehr der Fall ist.‹ Doch als ich versuchte herauszufinden, wie es passiert und was die Todesursache gewesen war, erwiderte sie lediglich: ›Es kam nicht unerwartet. Ich hatte schon seit Wochen damit gerechnet‹, und versprach dann, mir nächstens zu schreiben. Ich kam nicht einmal dazu, sie zu fragen, gegenüber wem es ›unfair‹ gewesen wäre, ob gegenüber Peter oder mir. (Aber bestimmt meinte sie uns beide.) Ein paar Tage später fiel mir ein, daß man in England, verglichen mit Spanien, die Toten erst sehr spät zu Grabe trägt und daß mir vielleicht noch Zeit blieb, um nach Oxford zu reisen und an der Trauerfeier teilzunehmen. Ich rief also mehrmals und zu unterschiedlichen Tageszeiten an, aber es ging niemand ans Telefon. Womöglich war Frau Berry zu Verwandten gezogen, hatte das Haus verlassen, sobald ihr Arbeitgeber gestorben war, und da wurde mir klar, daß mir fast niemand blieb, an den ich mich auf der Suche nach Informationen noch hätten wenden können. Tupra, ja, aber ich sah davon ab: Dies war nicht gerade eine Situation, in der ich ein Problem gehabt hätte oder verwirrt, in Not oder in Gefahr gewesen wäre, und er hatte es auch nicht für nötig befunden, mich von sich aus über Wheelers Tod zu informieren. Das Gefühl überkam mich – oder war es Aberglaube –, keine unnötige Kugel verschießen zu wollen, als hätte ich im Verhältnis zu ihm, auf unser beider Leben gerechnet, nur begrenzt Munition zur Verfügung. Auch die junge Pérez Nuix machte sich nicht die Mühe, mich darüber in Kenntnis zu setzen: Obwohl sie Peter nicht persönlich gekannt haben mochte, wußte sie sicher Bescheid. Ich hätte einen meiner früheren Kollegen anrufen können, Kavanagh oder Dewar oder ›die Flasche‹ Lord Rymer oder gar Clare Bayes – welch ein Gedanke –, aber es war so lange her, daß ich den Kontakt zu ihnen allen verloren hatte. Ich hätte es am Queen’s oder am Exeter versuchen können, den Colleges, mit denen Peter affiliiert gewesen war, doch deren Bürokratie hätte mich mit Sicherheit nur fruchtlos von einer Stelle zur anderen geschickt. Ich muß zugeben, daß ich den Aufwand scheute, Gedenken und Trauer müssen nicht unbedingt bei gesellschaftlichen Anlässen zur Schau gestellt werden. Ich hatte in Madrid sehr viel zu tun. Ich hätte mein Barett und meinen Talar abstauben müssen. Ich ließ es bleiben.
Frau Berrys Brief kam erst nach mehr als zwei Monaten. Sie entschuldigte sich für die Verspätung, sie habe sich um fast alles persönlich kümmern müssen, sogar um den Memorial Service, die Trauerfeier, die gerade abgehalten worden war, das geschieht dort in der Regel einige Zeit nach dem Tod. Sie war so freundlich, mir ein Erinnerungsheftchen von der Totenmesse zu schicken, mit dem Programm der Lieder und Lesungen. Obwohl Wheeler nicht religiös gewesen war, hatte er sich doch an die Riten der Anglikanischen Kirche halten wollen, denn, so erklärte mir Frau Berry, ›improvisierte Zeremonien waren ihm ein Greuel, diese laikalen Parodien, die heute so verbreitet sind.‹ Die Messe habe in der University Church of St. Mary the Virgin in Oxford stattgefunden, ich kannte sie gut, dort hatte Kardinal Newman gepredigt, bevor er konvertierte. Bach sei gespielt worden, Gilles und das gelassene und ironische Carillon des morts von Michel Corrette; man habe Hymnen gesungen; es seien einige Passagen aus dem Buch Jesus Sirach gelesen worden (›… er achtet auf die Reden berühmter Männer und in die Tiefen der Sinnsprüche dringt er ein; er erforscht den verborgenen Sinn der Gleichnisse und verweilt über den Rätseln der Sinnsprüche … er bereist das Land fremder Völker, erfährt Gutes und Böses unter den Menschen … Viele loben seine Einsicht; sie wird niemals vergehen. Sein Andenken wird nicht schwinden, sein Name lebt fort bis in ferne Geschlechter … Solange er lebt, wird er mehr gelobt als tausend andere; geht er zur Ruhe ein, genügt ihm sein Nachruhm‹), außerdem der Prolog zu James Mabbes Übersetzung von La Celestina von 1605 und ein Fragment aus einem Roman eines zeitgenössischen Autors, für den Wheeler eine Schwäche hatte; und einige seiner ehemaligen Kollegen an der Universität hätten Gedenkreden auf ihn gehalten, darunter Dewar der Inquisitor oder der Hammer oder der Schlächter, dessen Beitrag besonders treffend und bewegend
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