Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Samstag wegen etwas Dringlichem angerufen. Probleme mit deinem Problem in Madrid?‹
Aber ich beantwortete seine Frage nicht, sondern kam ohne weiteren Aufschub auf mein Thema zu sprechen:
›Was ist mit Dearlove und diesem russischen Jungen passiert, was hast du da gemacht‹, sagte ich. ›Du hast mich ganz schön reingeritten, die Idee hattest du von mir, verdammte Scheiße.‹ Tatsächlich entfuhr mir ein spanisches ›joder‹, weil es das war, wonach meine Empörung verlangte, und wenn ich dreimal englisch sprach.
Er sah mich einige Sekunden lang aus seinen blauen oder grauen Augen an – in diesem Licht waren sie grau –, durch seine langen Wimpern hindurch, die zu dicht waren, um nicht von fast jeder Frau beneidet und von fast jedem Mann beargwöhnt zu werden, dieser blasse Blick, der indes spöttisch war, auch wenn das nicht in seiner Absicht lag, ausdrucksvoll in Augenblicken der Ausdruckslosigkeit, gewinnend oder würdigend, Augen, denen niemals gleichgültig war, was sie vor sich hatten. Und er antwortete mir in genau demselben Ton, in dem er zu mir gesagt hatte: ›Ja, ich habe es gesehen‹, als ich ihn an einem anderen Morgen vor sehr langer Zeit in ebendiesem Büro gefragt hatte, ob er von dem gescheiterten Putschversuch in Venezuela gehört habe, und mir in den Sinn gekommen war, daß der Putsch vielleicht den Bach heruntergegangen war, weil wir in dem General oder Unteroffizier Bonanza nicht genug Entschlossenheit gesehen hatten – weil ich nicht genug davon wahrgenommen hatte –, der ersten Person, die ich übersetzt oder zu der ich einen Bericht improvisiert oder meine Interpretation zum Besten gegeben hatte.
›Es steht in allen Zeitungen, was passiert ist.‹ Vielleicht nutzte er meinen deplazierten, für ihn unverständlichen spanischen Kraftausdruck, um vorzugeben, er hätte nur meinen ersten Satz gehört, und über die restlichen hinwegzugehen. Oder nein, vorgeben stimmte nicht, er ließ mich dadurch wissen, daß er den Rest unangebracht fand und ihn mir nicht würde durchgehen lassen. ›Du wirst es gelesen haben. Selbst in der spanischen Presse, nehme ich an, sagtest du nicht, er sei dort so berühmt? Vor allem … wo war das, im Baskenland?‹ Sein Gedächtnis trog ihn nie. ›Und du hast mich ja schon in Edinburgh darauf aufmerksam gemacht, daß Dearlove irgendwas Schreckliches tun könnte, damit man sich seiner wenigstens deshalb erinnert, besorgt, wie er immer um sein Nachleben war. Daß er sein Leben mit einem Fleck beschließen und so den Kennedy-Mansfields beitreten könnte, bei dem geringen Vertrauen, das er darin hatte, daß seine Musik ihn überdauern würde, nicht wahr? Da hast du’s also. Du hast richtig gelegen, es war klar, daß das böse enden konnte. Und zwar mit Absicht.‹ Ich hatte jenes zusätzliche Urteil meinerseits vergessen, er aber nicht, und jetzt verwendete er es als Ausrede. Mir wurde klar, daß er sich nicht weiter darauf einlassen, daß er sich nicht einmal zum Gespräch bereitfinden würde, ich war immer noch ein Angestellter, der seine Aufgabe erfüllte, und dafür wurde ich gut entlohnt, ich hatte nicht das Recht, nach den Zielen oder dem Warum zu fragen, und schon gar nicht, Erklärungen zu verlangen oder Vorwürfe zu erheben, so sah er das. Vielleicht wegen der Wertschätzung, die er mir entgegenbrachte, wegen seiner vorübergehenden Schwäche für mich, verwies er mich nur indirekt, fast stillschweigend und beiläufig in die Schranken. Und das wurde mir noch klarer, als er hinzufügte: ›Noch etwas, Jack?‹ Genau dasselbe hatte er bei jener fernen Gelegenheit hinzugefügt, nachdem er mir knapp geantwortet hatte: ›Ja, ich habe es gesehen.‹ Nein, er pflegte mir meine Erfolge und Mißerfolge nicht mitzuteilen, auch nicht seine Beweggründe und Absichten und seine Pakte und Transaktionen oder Aufträge. Er hatte schon genug getan, indem er mich wissen ließ: ›Du hast richtig gelegen.‹ Ich glaube, das war tatsächlich das einzige Mal, daß er mir ein Lob aussprach.
›Ja, noch etwas‹, erwiderte ich. ›Ich muß fort, ich muß zurück nach Madrid. Es hat dort Komplikationen gegeben, es würde zu lange dauern, das zu erklären, es würde dich langweilen. Aber ich kann nicht in London bleiben. Mir bleibt keine andere Wahl, als die Arbeit hier aufzugeben. Deshalb habe ich dich am Samstag zu Hause angerufen, um dir das baldmöglichst mitzuteilen, falls du schon mal anfangen willst, Ersatz zu suchen. Darin kann ich dir natürlich nicht
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