Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
M an wünscht es nicht, aber man zieht es immer vor, daß derjenige stirbt, der neben einem ist. In einer Mission oder in einer Schlacht, in einer Fliegerstaffel oder unter einem Bombardement oder im Schützengraben, als es welche gab, bei einem Straßenraub oder bei einem Überfall auf ein Geschäft oder bei der Entführung von Touristen, bei einem Erdbeben, einer Explosion, einem Attentat, einem Brand, egal bei was: der Freund, der Bruder, der Vater oder sogar der Sohn, auch wenn er noch ein Kind ist. Und auch die Geliebte, auch die Geliebte, eher als man selbst. All die Fälle, bei denen jemand mit seinem Körper einen anderen deckt oder sich einer Kugel oder einem Messer entgegenstellt, sind außergewöhnliche Ausnahmen und fallen deshalb so auf, die meisten davon sind fiktiv, sie kommen in Romanen und Filmen vor. Die wenigen Fälle, die im Leben geschehen, gehorchen unüberlegten Impulsen oder solchen, hinter denen ein besonders ausgeprägter Sinn für Anstand steht, was immer seltener wird, manche Leute könnten nicht ertragen, daß ihr Sohn oder ihre Geliebte mit dem Gedanken sterben, man hätte ihren Tod nicht verhindert, sich nicht geopfert, sein Leben nicht gegeben, um ihres zu retten, so als hätte man eine Hierarchie der Lebenden verinnerlicht, die allmählich veraltet und verblaßt ist, die Kinder verdienen es, länger zu leben als die Frauen, und die Frauen länger als die Männer und diese länger als die Alten, ungefähr so, so war es früher, und diese alte Ritterlichkeit lebt in einigen Menschen fort, die immer weniger werden, sie besitzen noch diesen Anstand, der ziemlich absurd ist, wenn man es recht betrachtet, denn was sollte dieser letzte Gedanke ausmachen, der flüchtige Kummer oder die flüchtige Enttäuschung desjenigen, der einen Augenblick später bereits tot sein wird und nicht mehr imstande, sich enttäuscht oder bekümmert zu fühlen oder überhaupt zu denken? Es stimmt, daß es noch einige wenige gibt, bei denen diese Sorge fest verwurzelt ist und die daher für den Zeugen handeln, den sie retten, um gut vor ihm oder ihr dazustehen und voll ewiger Bewunderung und Dankbarkeit erinnert zu werden; ohne im entscheidenden Moment wirklich zu bedenken, ohne also ein volles Bewußtsein davon zu haben, daß sie diese Bewunderung und diese Dankbarkeit nie werden genießen können, weil sie es sind, die schon einen Augenblick später tot sein werden.«
Und während er sprach, kam mir ein schwer verständlicher, wenn nicht unübersetzbarer Ausdruck in den Sinn, den ich deshalb nicht sofort verwendete, es hätte eine Weile gedauert, ihn Tupra zu erklären: ›Wir bezeichnen das als Schamgefühl der Stierkämpfer‹, fiel mir ein, und gleich darauf: ›Aber natürlich haben die Stierkämpfer eine Menge Zeugen, eine ganze Arena und dazu bisweilen Millionen von Fernsehzuschauern, und es ist besser zu verstehen, daß sie denken: »Ich verlasse die Arena lieber mit zerschmettertem Oberschenkel, ich verlasse die Arena lieber als Leichnam denn als Feigling, vor so vielen Leuten, die es von nun an endlos erzählen würden.« Diese Stierkämpfer fürchten den erzählerischen Horror wie die Pest, den letzten Fehltritt, der ihr Bild prägt, für sie zählt ihr Ende tatsächlich sehr, wie für Dick Dearlove und fast jede öffentliche Person, denke ich mir, deren Geschichte in all ihren Abschnitten oder Kapiteln den Blicken aller preisgegeben ist, bis zum Ende, das diese Geschichte in ihrer Ganzheit bestimmt oder ihr einen ungerechten, trügerischen Sinn verleiht.‹ Und dann musste ich es doch sagen, obwohl ich Tupra damit kurz unterbrach. Es war jedoch ein Beitrag zu dem, wovon er gesprochen hatte, und diente dazu, einen Dialog zu fingieren:
»Wir nennen das im Spanischen ›vergüenza torera‹ .« Und ich sagte die zwei Wörter genau so, um sie ihm gleich darauf zu übersetzen. »›Bullfighter’s shame‹, wortwörtlich, oder › sense of shame ‹. Ein andermal werde ich dir erklären, was genau das ist, ihr habt hier ja keine Stierkämpfer.« Doch ich war in diesem Augenblick nicht einmal sicher, daß es ein andermal geben würde. Nicht einen Tag mehr an seiner Seite, überhaupt keine anderen Male.
»Gut, aber vergiß es nicht. Und stimmt, das haben wir nicht.« Tupra empfand stets Neugier für die Ausdrücke in meiner Sprache, über die ich ihn von Zeit zu Zeit aufklärte, wenn sie in den Zusammenhang paßten und auffällig waren. Doch jetzt war er dabei, mich aufzuklären (ich wußte schon,
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