Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
emeritiert alle beide. Nie habe ich gedacht, daß ich so viele mehr haben würde, ich weiß nicht, wie er sie getragen hätte, all die Jahre, die für mich noch hinzugekommen sind und für ihn nicht. Wahrscheinlich schlecht, schlimmer als ich. Er war unzufriedener, weil er auch optimistischer war und deshalb passiver, finden Sie nicht, Estelle?«
Es überraschte mich, daß er Frau Berry plötzlich beim Vornamen nannte, das hatte ich nie von ihm gehört, er war nicht selten mit mir allein gewesen, und doch hatte er sie stets mit ›Mrs. Berry‹ angesprochen. Ich fragte mich, ob die Art des Gesprächs etwas damit zu tun hatte. Als würden sie mir damit eine Tür oder mehrere öffnen (ich wußte noch nicht, welche oder wie viele), darunter die ihres zeugenlosen Alltags. Sie nannte ihn immer › Professor ‹, was in Oxford nicht Professor bedeutet, sondern eher Lehrstuhlinhaber oder Abteilungschef, folglich gibt es nur einen Professor an jeder untergeordneten Fakultät, und die übrigen sind bloße dons . Und dieses Mal tat Frau Berry es ihm gleich und sagte ebenfalls schlicht ›Peter‹ zu ihm. So nannten sie sich vermutlich, wenn sie allein waren, Peter und Estelle, dachte ich. Dagegen war es unmöglich zu wissen, ob sie sich duzten, denn im heutigen Englisch gibt es keine Unterscheidung zwischen ›du‹ und ›Sie‹, only ›you ‹.
»Ja, Peter, Sie haben recht.« Ich beschloß anzunehmen, daß sie beim ›Sie‹ geblieben wären, wenn sie Spanisch gesprochen hätten, so wie ich es im Geist Wheeler gegenüber tat, wenn ich in seiner Sprache mit ihm sprach. »Er vertraute darauf, daß die Menschen und die Dinge von allein zu ihm kamen, daher erlebte er mehr Enttäuschungen. Ich weiß nicht, ob er optimistischer oder stolzer war. Aber er ging nicht auf sie zu. Er suchte sie nicht wie Sie.« Der ruhige, diskrete Ton von Frau Berry war indes der gleiche wie immer, ich bemerkte nicht die geringste Veränderung.
»Das sind keine Eigenschaften, die sich gegenseitig ausschließen, Estelle, Stolz und Optimismus«, antwortete ihr ein leicht professoraler Wheeler. »Er war es, der mir von dir erzählt hat«, sagte er dann, an mich gewandt, und bei ihm hatte sich im Vergleich zu vorher eindeutig der Ton geändert: der Nebel war verflogen (die mögliche Furcht oder Verärgerung oder der Fatalismus), als hätte es ihn nach einigen besorgten Augenblicken beruhigt, feststellen zu können, daß ich von Rylands nicht allzuviel wußte, trotz der unvorhergesehenen Vertraulichkeiten an jenem Tag zu Hilary in meinem zweiten Oxfordjahr. Daß Tobys Erinnern seinen Willen in meiner Gegenwart nicht gänzlich verraten hatte und damit vielleicht auch nicht in der eines anderen. Daß ich von seinem einstigen Status als Spion und von einigen ungenauen Ereignissen ohne Zeitpunkt noch Ort wußte, aber weiter nichts. Er fühlte sich wieder Herr der Lage, nachdem er kurz aus dem Gleichgewicht geraten war, ich sah es an seinen Augen, ich merkte es am leicht didaktischen Ton seiner Stimme. Zweifellos hatte ihn die Entdeckung beunruhigt, daß er nicht alle Daten besaß, falls er das Gegenteil geglaubt hatte, und jetzt setzte er voraus, daß er erneut über alle verfügte, über alle, die er brauchte oder die ihm Spielraum und Bequemlichkeit verschafften. Im Licht des schon etwas fortgeschrittenen Vormittags sahen seine Augen sehr durchsichtig aus, nicht so mineralisch wie sonst, sondern sehr viel flüssiger, wie es die Augen von Toby Rylands waren oder zumindest das rechte, das die Farbe von Sherry oder von Öl annahm, je nach Sonneneinfall, und das andere beherrschte und gleichmachte, wenn man sie aus der Entfernung betrachtete: Oder vielleicht ist es so, daß man mehr Ähnlichkeiten zwischen Personen zu finden wagt, wenn ihre Blutsverwandtschaft dafür spricht. Wheeler hatte mir noch immer nichts von dieser mir bislang unbekannten Verwandtschaft erklärt, aber es hatte mich kaum Mühe gekostet, umzudenken und sie nicht mehr als Freunde, sondern als Brüder zu sehen. Oder als Brüder und Freunde obendrein, das müssen sie in jedem Fall gewesen sein. Wheelers Augen erschienen mir jetzt fast wie zwei große Tropfen Roséwein. »Es war Toby, der mir gegenüber bemerkte, daß du wie wir sein könntest, vielleicht«, fügte er hinzu.
»In welchem Sinn wie wir? Was heißt das? Was wollte er sagen?«
Wheeler antwortete mir nicht direkt. Freilich tat er das höchst selten.
»Solche Menschen gibt es kaum noch, Jacobo. Es gab nie viele, eher sehr
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