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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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unsere Erinnerungen. Zuerst verfallen die Erlebnisse. Und dann auch die Erinnerungen.«
    »Alles hat auch seine Zeit, nicht geglaubt zu werden, das ist es, nicht wahr?«
    Wheeler lächelte vage, wie gegen seinen Willen. Ihm war nicht entgangen, daß ich seinen vor kurzem geäußerten Satz umgekehrt hatte, sein mögliches Motto, das er mit Tupra teilte, wenn es denn ein Motto war und nicht eine Übereinstimmung ihres Denkens, eine Affinität mehr zwischen beiden.
    »Und doch hat er es dir erzählt«, murmelte Wheeler daraufhin, und mehr als Furcht glaubte ich jetzt Fatalismus oder Ergebung oder Resignation in seiner Stimme zu hören, das heißt Kapitulation.
    »Glauben Sie das nicht, Peter. Er hat erzählt, und er hat nicht erzählt. Auch wenn er bisweilen entrückt wirkte, verlor er doch nie ganz seinen Willen, glaube ich, und er sagte auch nicht mehr, als er bewußt sagen wollte. Auch wenn es eine ferne oder verborgene oder gedämpfte Bewußtheit war. Genau wie Sie.«
    »Und was hat er noch erzählt und nicht erzählt?« Er überging meine letzte Beobachtung oder er hob sie sich für später auf.
    »In Wirklichkeit erzählte er nicht, er sagte nur. Er sagte: ›Nichts davon darf mehr erzählt werden, aber ich bin tödliche Risiken eingegangen, und ich habe Menschen verraten, gegen die ich persönlich nichts hatte. Ich habe Leben gerettet, und ich habe andere Leute an die Wand stellen lassen oder an den Galgen geliefert. Ich habe in Afrika gelebt, an unwahrscheinlichen Orten und in anderen Zeiten, und ich habe gesehen, wie der Mensch, den ich liebte, sich umgebracht hat.‹«
    »Das hat er gesagt, ich habe gesehen, wie der Mensch …?« Er wiederholte den Satz nicht ganz. Wheelers Überraschung war groß, oder vielleicht war es Verärgerung. »Und das war alles? Hat er gesagt, wer, wie es war?«
    »Nein. Ich erinnere mich, daß er sich jäh unterbrach, als hätten sein Wille oder sein Bewußtsein seine Erinnerung verwarnt, damit sie nicht zu weit ging; dann fügte er hinzu: ›Und ich war bei Kampfhandlungen dabei.‹ Daran erinnere ich mich gut. Danach sprach er weiter, aber von seiner Gegenwart. Er sagte nichts mehr über seine Vergangenheit oder nur in sehr allgemeinen Worten. Noch allgemeineren.«
    »Darf ich wissen, was das für Worte waren?« Wheelers Frage klang nicht autoritär, sondern eher schüchtern, als bäte er mich um Erlaubnis; es war fast ein Flehen.
    »Aber ja, Peter«, antwortete ich, und es lag in meinem Ton wirklich weder Vorbehalt noch Unaufrichtigkeit. »Er sagte, sein Kopf sei voller deutlicher, überwältigender, schrecklicher und erhebender Erinnerungen, und wer sie, wie er, in ihrer Gesamtheit sehen könnte, würde denken, daß sie genügten, um nichts mehr zu wünschen, um mit der bloßen Erinnerung an so viele bewegende Dinge und Menschen die Tage des Alters intensiver auszufüllen, als es bei vielen anderen die Gegenwart vermag.« Ich hielt einen Augenblick inne, um ihm Zeit zu geben, die Worte in sich nachklingen zu lassen. »Das waren ziemlich annähernd seine Worte oder das sagte er. Und er fügte hinzu, daß es jedoch nicht so sei. Daß es in seinem Fall nicht so sei. Er sagte, er wolle noch immer mehr. Er sagte, er wolle noch immer alles.«
    Jetzt wirkte Wheeler erleichtert und betrübt und unruhig zugleich, oder vielleicht weder das eine noch das andere und auch nicht das letztere, sondern bewegt. Auch in seinem Fall war es sicher nicht so, wie viele deutliche und überwältigende Erinnerungen er auch bewahren mochte. Sicher füllte nichts die Tage seines Alters genügend aus, trotz seiner Umtriebe und Anstrengungen.
    »Und du hast ihm das alles geglaubt«, sagte er.
    »Es gab keinen Grund, ihm nicht zu glauben«, antwortete ich. »Und außerdem sprach er mit Wahrhaftigkeit, das weiß man bisweilen ohne eine Spur von Zweifel, daß jemand mit Wahrhaftigkeit spricht. Das kommt allerdings nicht oft vor«, fügte ich hinzu. »Daß nicht der geringste Zweifel besteht.«
    »Weißt du noch, wann das war, dieses Gespräch?«
    »Ja, es war Hilary meines zweiten Studienjahres dort, gegen Ende März.«
    »Das heißt, zwei Jahre vor seinem Tod, nicht?«
    »Mehr oder weniger, vielleicht etwas mehr. Es kann sein, daß er uns damals noch gar nicht vorgestellt hatte, Sie und mich. Sie und ich, wir müssen zum ersten Mal erst zu Trinity im gleichen Jahr zusammengetroffen sein, kurz vor meiner endgültigen Rückkehr nach Madrid.«
    »Wir hatten schon viele Jahre auf dem Buckel, Toby und ich, sehr

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