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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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wenige, daher war die Gruppe immer ziemlich beschränkt und verstreut. Aber in den heutigen Zeiten herrscht absoluter Mangel, es ist weder ein Klischee noch Übertreibung, wenn man sagt, daß wir in rapidem Aussterben begriffen sind. Unsere Zeiten sind kleinmütig, zimperlich, nachgerade duckmäuserisch geworden. Niemand will sehen, was man sehen muß, niemand wagt hinzusehen, schon gar nicht, eine Wette einzugehen oder zu wagen, sich zu wappnen, vorauszusehen, Urteile abzugeben, von Vorurteilen ganz zu schweigen, was ein kapitaler Affront ist, oh, das ist Menschheitsbeleidigung, eine Verletzung der Würde: des Vorverurteilten, des Vorurteilenden, von wem nicht. Niemand wagt noch, sich zu sagen oder einzugestehen, daß er sieht, was er sieht und was oft da ist, vielleicht stumm oder sehr einsilbig, aber offenkundig. Niemand will wissen; und davor, vorher zu wissen, na ja, davor hat man Horror, biographischen Horror und moralischen Horror. Für alles sind Nachweise und Beweise erforderlich; der Vorbehalt des Zweifels, so hat man das genannt, hat sich überall breit gemacht, ohne einen einzigen Bereich unkolonisiert zu lassen, und uns am Ende gelähmt, uns formal gleichmütig und skrupelhaft und arglos und praktisch zu Idioten, zu totalen necios gemacht.« Das letzte Wort hatte er so gesagt, auf spanisch, zweifellos weil es im Englischen keines gibt, das ihm phonetisch und etymologisch gleicht: utter necios rutschte ihm durch die Mischung heraus. » Necios im engen Sinn, im lateinischen Sinn von nescius , der nicht weiß, dem es an Wissen fehlt, oder wie euer Wörterbuch sagt, kennst du die Definition dort?, ›unwissend, wer nicht weiß, was er wissen könnte oder wissen sollte‹, begreifst du: was er wissen könnte oder wissen sollte , das heißt, wer bewußt und mit dem Willen, nicht zu wissen, nicht weiß, wer sich dem Wissen verweigert und das Lernen verabscheut. Wer selbstzufrieden ist im Unwissen.« Und sowohl bei dem Zitat als auch beim letzten Wort hatte er ebenfalls das Spanische benutzt: man erinnert sich immer an fremdsprachliche Wörter, die von den Muttersprachlern nicht mehr benutzt werden und ihnen fast unbekannt sind. »Und so erzieht man die Leute von Kind an zu Unwissenheit in unseren so verzagten Ländern. Das ist keine natürliche Entwicklung oder Degenerierung, das ist kein Zufall, sondern herbeigeführt, überlegt, institutionell. Nachgerade ein Programm für die Bildung von Bewußtsein oder für seine Auslöschung (für die Auslöschung des Charakters, ça va sans dire! ). Heute verabscheut man die Gewißheit: das hat als Mode angefangen, es machte sich gut, dagegen zu sein, die schlichten Geister steckten sie in die gleiche Schublade wie Dogmen und Doktrinen, diese Stümper (und es gab Intellektuelle darunter), als wären das alles Synonyme. Aber die Sache hat sich durchgesetzt, sich eingewurzelt, und wie. Heute haßt man das Bestimmte und Sichere und damit das in der Zeit schon Fixierte; und das liegt zum Teil daran, daß man auch die Vergangenheit verabscheut, es sei denn, man vermag sie mit der heutigen Unschlüssigkeit anzustecken oder kann die Unbestimmtheit der Gegenwart auf sie übertragen, man versucht das schon unaufhörlich. Heute ist man unfähig, das Wissen zu ertragen, daß etwas gewesen ist; daß es schon gewesen ist und unzweifelhaft so gewesen ist, wie es war. In Wirklichkeit ist es nicht nur dieses Wissen, das man nicht erträgt, sondern das bloße Gewesensein. Weiter nichts, nur das: daß es gewesen ist. Ohne unser Zutun, ohne unser Abwägen, wie soll ich sagen, ohne unsere grenzenlose Unentschlossenheit und unsere gewissenhafte Zustimmung. Ohne unsere so geliebte Ungewißheit als unparteiischer Zeuge. Diese Epoche ist so hochmütig, Jacobo, wie es keine andere gegeben hat, seitdem ich auf der Welt bin (Hitler kannst du vergessen), und ich kann mir schwer vorstellen, daß es sie vorher gegeben haben mag. Du mußt bedenken, daß ich jeden Tag, an dem ich aufstehe, eine erhebliche Anstrengung vollbringen und auf die Hilfe jüngerer Freunde zurückgreifen muß, wie du einer bist, um zu vergessen, daß ich eine direkte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bewahre oder, wie ihr ihn zu meinem Kummer und meinem Spott nennt, an den Krieg von 1914. Du mußt bedenken, daß eines der ersten Wörter, die ich durch ständiges Hören gelernt oder behalten habe, ›Gallipoli‹ war, es ist schier unglaublich, daß ich schon gelebt habe, als dieses Massaker stattfand. So hochmütig ist die

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