Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
über die kurz bemessene Zeit, hatte Toby zu seinem Rückblick veranlaßt.« ›Ich habe gehabt, was man gemeinhin ein erfülltes Leben nennt, oder ich betrachte es als solches‹, hatte Rylands gesagt. ›Ich habe weder eine Frau noch Kinder gehabt, aber ich glaube, ich habe ein Leben der Erkenntnis geführt, und darauf kam es mir an. Ich habe niemals aufgehört, mehr zu wissen, als ich vorher wußte, und es ist egal, wo du dieses vorher ansiedeln willst, auch wenn es heute ist, auch wenn es morgen ist.‹
»Und er hat dir damals erzählt, was er gemacht hatte, er hat dir von seinen Abenteuern erzählt?« fragte Wheeler, ich meinte, ein wenig Furcht in seiner Stimme zu bemerken, als zielte seine Frage auf etwas Konkreteres als auf eine Zusammenarbeit mit dem MI6, was in Oxford im Grunde etwas Belangloses, Triviales war.
»Er wollte mir erklären, daß er ein erfülltes Leben gehabt hatte, daß er sich nicht auf das Studium und das Wissen und die Lehre beschränkt hatte, wie es scheinen mochte«, antwortete ich. ›Aber ich habe auch deshalb ein erfülltes Leben gehabt, weil dieses Leben Taten und Unwägbarkeiten gekannt hat‹, hatte Rylands gesagt. »Und dann hat er mir bestätigt, was ich als Gerücht gehört hatte: daß er Spion gewesen war, das war das Wort, das er benutzte. Und ich schloß daraus, daß er dem MI5 angehört hatte, der MI6 kam mir gar nicht in den Sinn, vielleicht weil er uns Spaniern weniger bekannt ist.«
»Das hat er dir gesagt.« Sein Ton war nicht fragend. »Er hat dieses Wort benutzt, hmm«, murmelte Wheeler, wie es viele Leute in Oxford taten, Rylands ebenfalls. »Hmm.« Peter wirkte so nachdenklich und neugierig, daß es mir egoistisch und eines guten Freundes unwürdig erschien, den Kontext nicht zu erweitern, an den ich mich so gut erinnerte, und seinen jüngeren Bruder nicht wörtlich zu zitieren. »Hmm«, sagte er noch einmal leise.
»›Ich bin Spion gewesen‹, sagte er mir, ›wie du sicher gehört hast und wie es so viele von uns gewesen sind, denn das kann Teil unserer Aufgabe sein; aber nicht am Schreibtisch, wie dieser Dewar aus deiner Abteilung und die meisten, sondern vor Ort.‹« Ich sah an Wheelers Augen, daß er die Übereinstimmung mit einigen Formulierungen bemerkte, die er gerade gebraucht hatte.
»Hat er noch etwas gesagt?« fragte er.
»Ja, er sagte noch mehr: Er redete eine ganze Weile ohne Pause, fast als wäre ich nicht da, und fügte noch einige Dinge hinzu. Zum Beispiel sagte er: ›Ich bin in Indien und in der Karibik und in Rußland gewesen, und ich habe Dinge getan, die ich keinem mehr erzählen kann, weil sie lächerlich wirken würden oder unglaubhaft, ich weiß sehr genau, was man zu welcher Zeit erzählen kann und was nicht, denn ich habe mein Leben damit zugebracht, es aus der Literatur zu lernen, und kann es unterscheiden.‹«
»Darin hatte Toby recht, es gibt Dinge, die man nicht mehr erzählen kann, obwohl sie geschehen sind, oder nur sehr schwer. Kriegsereignisse klingen kindisch in Zeiten relativen Friedens, und daß etwas geschehen ist, ist kein zureichender Grund für seine Erzählung, es genügt nicht, daß etwas wahr ist, um plausibel zu sein. Die Wahrheit wird bisweilen unwahrscheinlich im Lauf der Zeit; sie rückt fern, und dann wirkt sie wie eine Fabel oder nicht mehr wie die Wahrheit. Mir selbst erscheinen Dinge fiktiv, die ich erlebt habe. Wichtige Dinge, an denen die nachfolgende Zeit jedoch zu zweifeln beginnt, vielleicht nicht so sehr die eigene, die Zeit von einem selbst, sondern die Epoche, es sind die neuen Epochen, die das Vorherige herabsetzen, das, was sie nicht erlebt haben, ich weiß nicht, fast als wären sie eifersüchtig darauf. Oft infantilisiert die Gegenwart die Vergangenheit, sie neigt dazu, sie in etwas Wunderliches, Kindliches zu verwandeln, und macht sie damit für uns unbrauchbar, verdirbt sie uns.« Er hielt inne, nickte mit dem Kopf zur Zigarette hin, die ich mir zögernd zwischen die Lippen gesteckt hatte, nachdem ich meinen Kaffee getrunken hatte (ich wußte nicht, ob der Rauch die beiden zu dieser Stunde vielleicht störte). Er schaute durch das Fenster auf den Fluß, auf sein Stück Fluß, das zivilisierter und harmonischer war als das von Toby Rylands. Er hatte für einen Moment jede Eile und jede Ungeduld verloren, das geschieht gewöhnlich, wenn man sich der Toten erinnert. »Wer weiß, ob wir nicht deshalb sterben, zum Teil: weil das, was wir erlebt haben, zunichte wird, und dann verfallen sogar
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