Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
gewesen bin, nur wenn ich Urlaub hatte oder irgendeinen spezifischen Auftrag, der mich gewöhnlich nicht lange festhielt, mein hauptsächlicher Standort war weit entfernt, mein Posten zu veränderlich. Wie du im Who’s Who gelesen hast, war ich in diesen Jahren an den unterschiedlichsten Orten und mit einem Aufgabenbereich, der schon mit Geheimhaltung, Diskretion, Vorsicht, Verstellung, Täuschung, falls nötig Verrat (gezwungenermaßen) und natürlich mit Schweigen verbunden war oder all dies einschloß. Ich war im Vorteil, mich kostete es keinerlei Mühe, letzteres rigoros zu bewahren. Mehr noch, vielleicht, weil ich dort, wo man mich hinschickte, ständig auf der Hut war, konnte ich deutlicher ermessen, was den Leuten hier, zu Hause, im Hinterland, im allgemeinen widerfuhr. Die Kampagne war auch eine schreckliche Versuchung, wie soll ich sagen, für die ganze Bevölkerung: so gewaltig wie unbemerkt, so unwiderstehlich wie unbewußt, so unerwartet wie rätselhaft.«
»Was meinen Sie, Peter? Ich verstehe nicht.«
»Die Bürger, Jacobo, die Bürger jedes beliebigen Landes, die riesige Mehrheit, haben normalerweise nichts zu erzählen, was für irgend jemanden von wirklichem Wert sein könnte. Wenn man am Abend darüber nachdenkt, was einem im Lauf des Tages die vielen oder wenigen Personen gesagt oder erzählt haben, mit denen man gesprochen hat (und der Grad ihrer Bildung und ihres Wissens tut nichts zur Sache), wird man sehen, daß es nur wenige Tage gibt, an denen man etwas gehört hat, das wirklich von Belang oder Interesse oder mit einer Erkenntnis verbunden war, abgesehen von rein praktischen Einzelheiten und Fragen, aber eingeschlossen natürlich alles, was man aus einer Zeitung, aus dem Fernsehen oder dem Rundfunk erfahren hat (etwas anderes ist es, wenn man ein Buch gelesen hat, und auch das je nachdem). Fast alles, was wir sagen und mitteilen, ist Talmi, ist Füllsel, ist überflüssig, ist trivial, langweilig, austauschbar und abgedroschen, sosehr es ›unser‹ ist und die Leute, wie man jetzt gespreizt, mit kaum zu überbietender cursilería ständig sagt, ›das Bedürfnis fühlen, sich auszudrücken‹. Es hätte sich kaum etwas geändert, wenn die Millionen Meinungen, Gefühle, Ideen, Tatsachen und Neuigkeiten, die in der Welt tagtäglich ausgedrückt und erzählt werden, nicht ausgedrückt worden wären.« (Überflüssig zu sagen, daß Wheeler für das Wort ›cursilería‹, das in keiner anderen Sprache ein genaues Äquivalent besitzt, auf meine zurückgriff.) »Durch Reden kommt man sich näher, sagt ihr oft im Spanischen. Reden tut gut, heißt es gewöhnlich in verschiedenen Situationen und Zusammenhängen. Es fehlte nur noch, daß die Psychologen und ihresgleichen diese absurde Vorstellung in den Kopf der Sprecher pflanzten, damit diese dem, was seit jeher ihrer natürlichen Neigung entsprach, noch freieren Lauf ließen. Reden an sich ist weder gut noch schlecht, und was die Verständigung durch Reden betrifft, na ja, es ist im gleichen Maß Quelle von Konflikten und Mißverständnissen wie von Harmonie und Einverständnis, von Ungerechtigkeiten wie von Wiedergutmachungen, von Kriegen wie von Waffenstillständen, von Verbrechen und Verrat wie von Treue und Liebe, von Verdammnis wie von Rettung, von Kränkung und Zorn wie von Tröstung und Beschwichtigung. Reden ist in jedem Fall die größte Vergeudung der gesamten Bevölkerung, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts, der Klasse, des Vermögens oder des Wissens, die Verschwendung schlechthin. Fast niemand vermag etwas zu sagen, was seine möglichen Zuhörer wirklich beachtenswert finden, der Aufmerksamkeit wert oder gar wert, gekauft zu werden, wer bezahlt für etwas, das immer kostenlos ist, von seltenen Ausnahmen abgesehen, und sogar bisweilen obligat? Und dennoch, seltsamerweise und trotz allem bestehen die Leute darauf, pausenlos und noch dazu täglich zu reden. Es ist erstaunlich, Jacobo, wenn man sich die Mühe macht, darüber nachzudenken: die Männer und Frauen erklären und erzählen unzählige Dinge, und sie erklären bis zum Überdruß sich selbst, suchen nach jemandem, der ihnen zuhört, oder zwingen ihre Reden auf, wenn sie können, der Vater den Kindern, der Lehrer den Schülern, der Pfarrer den Gläubigen, der Ehemann der Ehefrau und die Ehefrau dem Ehemann, der Kommandeur den Truppen und der Chef seinen Untergebenen, der Politiker seinen Anhängern und sogar der versammelten Nation, die Fernsehanstalten den Zuschauern,
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