Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
ich mir aufs Geratewohl das Haar. Als ich fertig war, unterzog ich es seinem Urteil:
»Ist es gut so?« Und ich zeigte ihm theatralisch meine beiden Profile.
»Passabel«, sagte er, nachdem er mir einen herablassenden Blick gegönnt hatte, wie ein Vorgesetzter, der eilig den Helm seines Soldaten inspiziert. Dann kehrte er wieder dorthin zurück, wo er vor dem Luftangriff gewesen war, er verlor nie den Faden, es sei denn, er wollte es so. Trotz der vielen Umwege, Abwege und Nebenwege ging er seine Strecke bis zum Ende. »Was geschah mit dieser Kampagne?« fragte er rhetorisch. »Sie scheiterte insgesamt, wie nicht anders zu erwarten. Dazu war sie unweigerlich von Anfang an verurteilt. Na ja, zu etwas war sie natürlich nütze, und das war sicher nicht wenig: die Leute wurden sich der Gefahr bewußt, der sie sich aussetzten, wenn sie zuviel redeten, die meisten waren noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen. Sie hatte sicher ihre Wirkung bei vielen Truppenverbänden, und das war die Hauptsache, denn die waren am besten informiert und am meisten in Gefahr, die Folgen verbaler Fahrlässigkeiten und Exzesse zu spüren zu bekommen. Und natürlich ließen die Befehlshaber, die politischen und die militärischen, große Vorsicht walten. Es wurde mehr und mehr zur Gewohnheit, sich chiffriert zu verständigen oder mit einfachen Doppeldeutigkeiten und semantischen Vertauschungen, mit improvisierten Synekdochen und Metalepsen für den Hausgebrauch, das war schon eine spontane Sache bei der gesamten Bevölkerung, jeder im Rahmen seiner Einfälle und Möglichkeiten. Es entstand und verfestigte sich der Eindruck, daß ein jeder mit feindlicher Absicht zuhören konnte. Ja, man kann sagen (und das war schon an sich ungewöhnlich und erstaunlich), daß ein volles, kollektives, wenn auch vorübergehendes Bewußtsein davon entstand, was die Zeichnung mit dem Seemann und dem Mädchen und die nachfolgende Sequenz veranschaulichen: daß unsere Worte, sind sie erst einmal ausgesprochen, nicht mehr kontrolliert werden können. Sie sind das, was uns am wenigsten gehört, weit weniger als unsere Handlungen, die sozusagen bei uns bleiben, gleich ob gut oder schlecht, ohne daß ein anderer sie sich aneignen könnte, es sei denn in eindeutigen Fällen von Anmaßung oder Hochstapelei, die man immer denunzieren, zu Fall bringen, rächen oder demaskieren kann, auch wenn es zu spät ist.« Wheeler hatte »rächen« natürlich in meiner Sprache gesagt, desfacer , in welcher anderen sonst. Er hatte auch ›wie nicht anders zu erwarten‹ und ›für den Hausgebrauch‹ auf spanisch gesagt, es gefiel ihm, mit seinem umgangssprachlichen Spanisch und seinem literarischen Spanisch zu glänzen, wie auch mit seinem Portugiesisch und seinem Französisch, nehme ich an, diese drei Sprachen beherrschte er gründlich und vielleicht andere, zumindest besaß er Grundkenntnisse des Hindi, des Deutschen und des Russischen, soviel ich wußte. »Nichts liefert man so sehr oder so vollständig aus wie die Worte. Man äußert sie, und im gleichen Augenblick entäußert man sich ihrer und überläßt sie dem Besitz oder besser gesagt dem Gebrauch dessen, der sie gehört hat. Dieser kann sie zunächst einmal unterschreiben, was nicht so angenehm ist, denn in gewissem Sinne eignet er sie sich an; oder in Abrede stellen, was auch nicht angenehm ist; aber er kann sie vor allem seinerseits unbegrenzt weitergeben und dabei die Quelle zitieren oder sie als eigene ausgeben, je nachdem, wie es ihm paßt, je nach seinem Anstand oder je nachdem, ob er uns verderben und verraten will, das hängt von den Umständen ab; und nicht nur das, er kann sie auch ausschmücken, verbessern oder verschlechtern, verfälschen, in ein schiefes Licht rücken, aus dem Zusammenhang reißen, ihren Ton verändern, ihren Akzent verschieben und ihnen damit eine andere Bedeutung geben oder sie sogar in das Gegenteil dessen verkehren, was sie in unserem Mund bedeuteten oder als wir sie ersannen. Und sie natürlich mit absoluter Genauigkeit, verbatim , wiederholen. Das wurde während des Krieges am meisten gefürchtet, deshalb versuchten viele, nur mit halben Worten zu sprechen, metaphorisch oder verschwommen, mit bewußten Ungenauigkeiten oder direkt in geheimen Sprachen. Viele lernten zu sprechen, ohne etwas zu sagen, und gewöhnten sich daran.«
»Etwas Ähnliches passierte in der Franco-Diktatur in Spanien, um die Zensur zu umgehen«, sagte ich; Wheeler hatte mich aufgefordert, ihn öfter zu
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