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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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unterbrechen: »Viele Leute gingen dazu über, symbolhaft, in Anspielungen, gleichnishaft oder abstrakt zu sprechen und zu schreiben. Man mußte sich innerhalb der bewußten Verdunkelung des Gesagten verständlich machen. Absurd: sich zu tarnen, zu verschleiern und trotz allem auf das Erkennen zu zielen, darauf, daß die Botschaften verstanden wurden, auch wenn sie noch so diffus, kryptisch und konfus waren. Die Leute haben keine Geduld für die mühselige Arbeit des Entzifferns. Es dauerte zu viele Jahre, man hatte schließlich den Eindruck, daß es nicht vorübergehend, sondern endgültig war. So manche konnten sich später nicht entwöhnen, und dann verstummten sie.«
    Wheeler hörte mir zu, und ich dachte, wenn er auf mich einginge, könnte er abermals von seinem Weg abkommen. Doch jetzt schien er entschlossen, ihn weiterzugehen, wenn auch mit seinem gemessenen Schritt:
    »Viele hatten gelernt zu sprechen, ohne etwas zu sagen«, er wiederholte diesen Satz. »Was aber fast niemand gelernt hatte, war, nicht zu sprechen, zu schweigen, das war es, was man von ihnen verlangte, und das war angebracht. Und das war normal, das ist natürlich: Es ist ein unmöglicher Lernprozeß für die gewöhnlichen oder die meisten Sterblichen, da kannst du sicher sein, es ist zuviel von ihnen verlangt, gegen ihr eigenes Wesen zu handeln, deshalb war die Kampagne zu einem mehr als partiellen Mißerfolg verurteilt. Es war, als würde man den Leuten sagen: Gut, ihr müßt nicht nur den allgemeinen Mangel, die Knappheit und Rationierung ertragen und unter den Bombenangriffen der feindlichen Luftwaffe leiden, ohne zu wissen, wer morgen oder vielleicht schon diese Nacht nicht einmal mehr durch das Sirenengeheul aufwachen wird; ihr müßt nicht nur erleben, wie eure Häuser nach den Blitzen und dem Donner im Nu in Flammen aufgehen oder in Trümmer gelegt werden und euch stundenlang in den tiefen Luftschutzkellern verstecken, um nicht in euren Straßen zu verglühen, die noch immer die gleichen zu sein scheinen, ihr müßt nicht nur den Verlust eurer Ehemänner und Söhne und in jedem Fall ihre Abwesenheit und die quälende Furcht um ihr tägliches Überleben oder ihren täglichen Tod erleiden; ihr müßt nicht nur Flugzeuge besteigen, damit sie euch angreifen, wenn ihr in der Luft kämpft, und euch in wilden Manövern abschießen, nicht nur in Unterseebooten und Zerstörern und Panzerkreuzern in fernen, flammenden Wassern untergehen und im Innern eines Panzers ersticken oder verbrennen und mit dem Fallschirm über besetztem Gebiet abspringen und euch dem Feuer der Batterien aussetzen oder später der Verfolgung durch die Hunde, wenn es euch gelingt, sicher auf dem Boden zu landen, und euch nicht nur in Stücke reißen lassen, wenn euch das schlimme, aber mögliche Los widerfährt, von einem Mörser oder einer Granate getroffen zu werden, und Folter und Henker gewärtigen, wenn ihr für eure Mission zivil gekleidet seid und man euch in verbotenem Lande faßt, und nicht nur an der Front von Mann zu Mann mit gefälltem Bajonett kämpfen, auf den Feldern, in den Wäldern, in den Urwäldern, in den Sümpfen, im Eis und in den Wüsten, und dem jungen Burschen mit dem verhaßten Helm und der verhaßten Uniform, der in euer Blickfeld gerät, rasch den Kopf wegblasen, und nicht nur jeden Tag und jede Nacht in der Ungewißheit leben, ob ihr diesen Krieg verlieren werdet und er am Ende nur dazu gedient haben wird, euch in Leichen zu verwandeln, an die niemand sich erinnert, oder in ewige Gefangene oder Sklaven eurer Sieger, und nicht nur Kälte und Hunger und Durst und Hitze im Übermaß erleiden und Beklemmung und vor allem Angst, alle Ängste und große Angst, ein ständiges Entsetzen, an das ihr euch am Ende gewöhnen werdet, obwohl ihr schon jahrelang so lebt und diese Gewöhnung niemals eintritt, ja«, sagte Peter, nachdem er jäh innegehalten und eine winzige Pause gemacht und dann tief Luft geholt hatte: »Es war, als hätte man den Leuten gesagt: ›Von all dem abgesehen, müßt ihr schweigen. Sprecht nicht mehr, erzählt nicht mehr, scherzt nicht mehr, fragt nicht und antwortet noch weniger, nicht eurer Frau, nicht dem Ehemann, nicht euren Kindern, nicht eurem Vater und keinesfalls eurer Mutter, nicht eurem Bruder und nicht dem besten Freund. Und eurer Geliebten … eurer Geliebten flüstert nicht einmal etwas ins Ohr, erklärt ihr nichts mit wahren oder süßen oder falschen Worten, sagt ihr nicht Lebwohl, gebt ihr nicht den Trost der Stimme

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