Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
den wir uns schlecht ertragen und uns kaum halten können, und wie wir uns zugleich dafür hergeben, stellvertretend die leeren Plätze einzunehmen, die man uns im Lauf der Zeit zuweist, denn wir begreifen diesen Mechanismus und haben Teil an ihm, an dieser ständigen, universalen Rotation, die alle und damit auch uns erfaßt, und so akzeptieren wir, daß wir Imitate sind und mehr und mehr von ihnen umgeben leben.)
Er amüsierte mich und lehrte mich viel mit seiner intelligenten und daher nie unbilligen Malice und mit seinem erstaunlichen sanften Scharfsinn, der so wenig ostentativ daherkam, daß man ihn oft in seinen scheinbar harmlosen, rhetorischen, belanglosen oder sogar fast kryptischen Bemerkungen und Fragen voraussetzen oder entziffern mußte, wenn man bereits gewarnt war: man mußte ihm »zwischen den Worten« zuhören, so wie man ihn manchmal in seinen Schriften zwischen den Zeilen lesen muß, obwohl seine indirekte Art ihn auch nicht daran hinderte, wenn ihm das stillschweigend Vorausgesetzte langweilig wurde oder er es plötzlich als Ballast empfand, so freimütig und sogar erbarmungslos zu sein – gegenüber Dritten oder dem Leben oder sich selbst, gegenüber seinen Gesprächspartnern gewöhnlich nicht –, wie ich es bei niemandem sonst erlebt habe oder allenfalls bei Rylands; oder vielleicht bei mir selbst, aber im Kielwasser und als Schüler beider. Und ich unterhielt ihn wahrscheinlich – etwas anderes wagte ich nicht zu denken – und schmeichelte ihm sogar mit meiner Gutwilligkeit und meiner leichten Zufriedenheit und meinem anerkennenden Lachen, das sich niemals hat bitten lassen vor Personen, die ich achte oder bewundere, und Wheeler verdient in meinen Augen beides. (Ich für ihn als Ablösung oder Nachfolger von niemandem oder von jemandem, der mir nicht bekannt ist und vielleicht seiner alten Vergangenheit entstammt, eine lange Zeit hinausgeschobene oder womöglich längst aufgegebene Ersetzung irgendeiner fernen Gestalt, auf deren Echo oder bloßen Schatten oder Abglanz er bereits verzichtet hatte.)
Und so besuchte ich ihn während meiner Zeit in London, als ich im Dienst von Radio BBC stand, bis Mr. Tupra mich dort herausholte, in seinem Haus in Oxford, am Cherwell-Fluß, wie das von Rylands, dessen Nachbar er auch gewesen war, ich tat es aus eigener Initiative oder gelegentlich auf seine hin, wenn er, aus welchem Grund auch immer, Zeugen für seine Auftritte oder heimlichen Inszenierungen wollte oder Gäste hatte, denen er ein Minimum an Vielfalt zu bieten wünschte – zum Beispiel einen Latino, der dem durchgekauten Universitätsambiente nicht mehr angehörte – oder über die er sich später, an einem anderen Tag, allein, gerne mit mir unterhalten würde. Ich hatte diesen Eindruck zwei- oder dreimal: es war, als bereitete Wheeler mit seinen mehr als achtzig Jahren die Gespräche vor, die ihn in naher oder für ihn noch absehbarer Zukunft unterhalten oder anregen könnten. Und wenn er voraussah, daß es ihn amüsieren würde, später mit mir über Tupra zu reden oder mir Indiskretionen über ihn zu erzählen, seine Laster und dunklen Seiten und komischen Züge, war es angebracht, daß ich Tupra zuvor kennengelernt hatte oder ihm zumindest eine Stimme und ein Gesicht zuordnen konnte und mir ein Bild von ihm gemacht hatte, so oberflächlich es auch war, damit er es mir dann bestätigen oder widerlegen oder sogar mit unnötigem Eifer streitig machen könnte, nur so hätte unsere Unterhaltung Witz. Er forderte seine Kontrapunkte, wenn er seine Reden schwang.
Ich frage mich, ob die rätselhafte, abgebröckelte Zeit des Alters darin besteht, daß, wer in sie einmündet und ihr gehört, in so paradoxer Weise genug von dieser abnehmenden Zeit haben wird, daß er nicht wenig davon auf die Verfertigung oder Komposition ausgewählter Augenblicke verwendet; oder seine zahlreichen leeren oder toten Zeiten gewissermaßen zu einigen wenigen vorgestellten Szenen und vorbedachten Dialogen hinführt, nachdem er seinen Part bereits memoriert hat: als würde die Zeit der Alten – die zugleich kurz und langsam ist, beschränkt und reichlich, die Zeit des schlauen Alten – von diesen sorgfältig und soweit wie möglich geplant und reguliert und gelenkt und als wären sie nicht mehr bereit – es ist genug, es reicht: kein Schmerz mehr und kein Fieber; weder Wort noch Lanze, nicht einmal Traum –, sie als Folge des Zufalls und des Unerwarteten und ihnen Äußerlichen zu akzeptieren, sondern
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