Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Hosentasche, das würden wir nicht schaffen in Madrid, man verdient nicht genug für einen solchen Aufwand, unsere rücksichtslosen, unfähigen Behörden verfrachten ständig Massen von Illegalen, denen Sprache, Land und Sitten unbekannt sind, in die größte Stadt und lassen sie auf ihren Straßen frei – Leute, die gerade über Andalusien oder die Kanarischen Inseln eingeschleust wurden oder über Katalonien und die Balearen, wenn sie aus dem Osten kommen, von denen sie nicht einmal wüßten, in welche Länder sie sie zurückschicken sollten –, auf daß sie sich ohne Papiere und ohne Geld durchschlagen, die Menge der Armen wächst ständig, noch dazu Arme, die verwirrt, desorientiert, verloren, obdachlos, unverständlich, namenlos sind. Luisa bemerkte die Gruppe also nicht als mitleiderregende Gruppe an sich, wie es so viele gibt, sondern sah Individuen, sie fielen ihr auf, die junge Bosnierin und ihr Kinderwachsoldat, ich meine, sie sah genau sie, sie erschienen ihr nicht ununterscheidbar oder austauschbar wie Gegenstände des Mitleids, sie sah die Personen jenseits ihrer Situation und ihrer Funktion und ihrer allerdings sehr verbreiteten und von vielen geteilten Bedürfnisse. Sie sah nicht eine arme Mutter mit Kindern, sondern die konkrete Mutter mit den konkreten Kindern, mit dem ältesten vor allem.
»Er hat ein so aufgewecktes, so lebendiges kleines Gesicht«, erzählte sie mir. »Und was mich am meisten rührt, ist seine Bereitschaft, zu helfen, sich um seinen Bruder zu kümmern, sich irgendwie nützlich zu machen. Dieser kleine Junge will keine Last sein, obwohl er gar keine andere Wahl hat, er kommt ja kaum allein mit irgend etwas zurecht. So klein, wie er ist, will er teilnehmen, will er mithelfen, man sieht, wie lieb er zu dem Baby ist und wie er aufpaßt, was passieren kann und was gerade passiert. Er verbringt viele Stunden dort und hat nichts, womit er sich die Zeit vertreiben kann, er steigt die Stufen rauf und runter, er hängt sich ein wenig an das Geländer, er versucht, selber den Kinderwagen zu schaukeln, aber dazu fehlt ihm die Kraft. Das sind seine größten Ablenkungen. Aber er entfernt sich nie zu weit von der Mutter, nicht aus mangelndem Abenteuergeist (er wirkt so aufgeweckt), sondern als wäre ihm bewußt, daß dies eine zusätzliche Sorge für sie wäre, und man sieht, daß er versucht, ihr die Dinge so weit es geht zu erleichtern, oder so sehr er kann, und er kann nicht viel. Und manchmal streichelt er die Wangen der jungen Frau oder des kleinen Bruders. Er schaut in alle Richtungen, nach allen Seiten, er ist sehr wachsam, ich bin sicher, seinen lebhaften Augen entgeht kein Passant, und an manche wird er sich von einem Mal zum anderen erinnern, auch an mich wahrscheinlich. Mich rührt dieses so verantwortliche, eifrige, teilnehmende Verhalten, dieser enorme Wille, nützlich zu sein. Noch ist es nicht soweit für ihn.« Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Stell dir vor, wie absurd. Vor kurzem existierte er noch nicht, und jetzt ist er voller Sorgen, die er nicht einmal begreift. Vielleicht belasten sie ihn deshalb nicht, er wirkt fröhlich, und er liebt seine Mutter sehr. Aber es ist sicher ungerecht, nicht nur absurd.« Sie verharrte einige Sekunden nachdenklich und strich sich mit beiden Händen über die Knie, sie hatte sich auf den Rand des Sofas gesetzt, zu meiner Rechten, sie war gerade nach Hause gekommen und hatte sich noch nicht den Mantel ausgezogen, auf dem Boden lagen die Tüten mit ihren Einkäufen, sie war nicht direkt in die Küche gegangen. Ihre Knie gefielen mir immer, mit oder ohne Strümpfe, und glücklicherweise waren sie für mich fast jederzeit sichtbar, sie trug meist Röcke. Dann sagte sie: »Er erinnert mich ein wenig an Guillermo, als er so klein war. Auch bei ihm hat mich das gerührt, es liegt nicht nur daran, daß sie arm sind. Daß er so voller Ungeduld war, Aufnahme in die Welt oder in die Verantwortlichkeiten und Aufgaben zu finden, so begierig, alles mitzubekommen und zu helfen, so bewußt, was meine Bemühungen und Schwierigkeiten betraf. Und auch deine, obwohl er dich weniger sah, noch intuitiver, du erinnerst dich. Oder deduktiver.«
Sie fragte es mich nicht, sie rief es mir nur in Erinnerung oder bestätigte sie. Ich erinnerte mich sogar in London noch immer daran, als ich den Jungen nicht sah und um ihn zu fürchten begann, er war sehr geduldig mit seiner Schwester, sehr beschützend, und oft teilte er zu viel und gab nach, als
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