Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
zweifelhaft und deshalb erzählt werden kann (und tausendfach erzählt werden kann, ohne auch nur in zwei Versionen übereinzustimmen), begreifen, daß wir auch begriffen, als die Gegenwart noch Gegenwart und weder ihrer Verleugnung noch ihrer Trübung oder Verdunkelung ausgesetzt war, andernfalls könnten wir sie nicht mit diesen Zeitangaben versehen, und die Wahrheit ist, daß wir das tun, o ja, wir pflegen später alles mit geradezu erschreckender Präzision zu datieren: »Es gab einen Tag, da …«, sagen wir oder erinnern wir uns wie in den Romanen (die immer auf das Bestimmte zielen: ihr Ausgang gibt es ihnen vor, diktiert es ihnen; aber nicht alle Romane kennen ihn), bisweilen allein und bisweilen in Gesellschaft, zwei, die laut rekapitulieren: »Es waren die Worte, die du bei deinem Geburtstag nebenbei hast fallen lassen, die mich gewarnt oder mich zu meinem Rückzug veranlaßt haben.« »Deine Reaktion war enttäuschend, und ich mußte mich fragen, ob ich mich nicht in dir getäuscht hatte; aber dann hätte ich mich zu viele Jahre lang getäuscht, also hattest du dich vielleicht verändert.« »Ich habe diese Vorwürfe nicht ausgehalten, sie waren so hartnäckig und ungerecht, daß ich mich fragte, ob sie nicht nur ein Vorwand waren, die beste Strategie, um mich erkalten zu lassen; und am Ende war ich tatsächlich eiskalt.« Ja, wir wissen gewöhnlich, wann etwas sich verschiebt oder zerbricht oder zur Last wird. Aber wir erwarten immer, daß es sich einrenkt oder heilt oder wir uns davon erholen – manchmal von allein, wie durch Zauberei – und daß dieses Wissen sich nicht bestätigt; oder wir fassen bereitwillig Vorsätze, uns zu ändern, wenn wir bemerken, daß die Sache noch einfacher ist, daß etwas an uns lästig oder unangenehm oder abstoßend ist. Aber diese Versuche sind theoretisch und ohne rechten Glauben. In Wirklichkeit wissen wir, daß wir nicht fähig sein werden oder daß nichts mehr von dem abhängt, was wir tun oder was wir lassen. Es ist das gleiche Gefühl, wie es die Alten hatten, wenn ihnen der Ausdruck über die Lippen oder in den Sinn kam, den unsere Zeit vergessen oder vielmehr verworfen hat, und sie sich eingestanden: »Die Würfel sind gefallen.« Und obwohl der Satz fast abgeschafft ist, dauert dieses Gefühl fort, und wir kennen es noch immer. ›Da ist nichts mehr zu machen‹, das allerdings sage ich mir bisweilen.
Am Eingang eines Hypermarktes oder Supermarktes oder Pseudomarktes, in dem Luisa einkaufte, bezog an manchen Tagen eine sehr junge Frau Stellung, die außerdem Ausländerin und Mutter war und beides zweifach: denn sie hatte zwei Kinder, ein wenige Monate altes in einem klapprigen Kinderwagen und ein älteres, aber noch sehr kleines, zwei bis drei Jahre alt (soviel gab ihm Luisa, sie hatte gesehen, daß es noch Windeln unter seinen kurzen Hosen trug), das den Kinderwagen wie ein Soldat bewachte, ein winzig kleiner Prätorianer ohne Waffen; und die junge Frau war nicht nur Rumänin oder Bosnierin oder vielleicht Ungarin – wenn auch weniger wahrscheinlich, da nicht so zahlreich in Spanien –, sondern schien vor allem Zigeunerin zu sein. Sie wirkte nicht älter als zwanzig, und an den Tagen, an denen sie dort bettelte (nicht an allen oder Luisa traf sie nicht immer an), hatte sie immer ihre zwei Kinder bei sich, weniger, um mehr Mitleid zu erregen, als vielmehr – so deutete es Luisa –, weil sie wahrscheinlich nicht wußte, wo und bei wem sie sie lassen sollte. Sie waren ein Teil von ihr, genauso wie ihre Arme. Sie waren ihre Verlängerung, die junge Frau hatte sie , so wie der Hund keine Pfote hatte in der Sicht von Alan Marriott, als er beschloß, ihn in seiner Phantasie mit jener anderen jungen Zigeunerin zu verbinden, und sie ihm zusammen als grauenvolles Paar erschienen.
Die Rumänin stand stundenlang am Eingang des Hypermarktes, zuweilen setzte sie sich auf die Eingangsstufen und schaukelte von dort aus den Kinderwagen auf dem Bürgersteig, mit dem älteren Kind als Wachposten. Wenn Luisa auf sie aufmerksam wurde, dann nicht nur aufgrund des tableau vivant , aufgrund des Bildes, das immer seine Wirkung erzielt, sich aber auch oft wiederholt, obwohl heute die Anwesenheit von Kindern beim Betteln verboten ist. Luisa gehört nicht zu denen, die für alle Mitleid empfinden, ebensowenig wie ich. Oder vielleicht doch, aber das geht nicht so weit, daß wir jedesmal, wenn wir einem Bettler begegnen, nach Geld greifen, sie in der Handtasche, ich in der
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