Entfesselte Energien (Band 1)
1. Kapitel
„Wo ist Marie-Therese?“, fragte der Baron beim Eintreten. Er pflegte die Tochter so umständlich zu nennen, alle übrigen sagten nur ‘‘Tess’’. „Unsere Gäste können in jedem Augenblick kommen“, fuhr der Herr des Hauses Rechberg-Leudelfingen böse fort, ehe noch jemand Zeit gefunden hatte zu antworten.
„ Tess kommt sofort wieder“, begütigte die Baronin und legte dem Gatten einen Brief auf den Schreibtisch. „Von unserem Nachbarn!“ Gleichgültig griff er nach dem großen Couvert, während die Linke die Taschen nach dem Kneifer durchsuchte. „Das Kind kann sich doch nicht an Ordnung gewöhnen“, brummte er, schon etwas ruhiger und mehr für sich.
Man atmete hörbar auf in dem Raum, als sich der Herr Baron niederließ und den Brief aufzureißen begann. Ulli, Tessis Bruder, lächelte leise im Kreise umher, drückte der Mutter dankbar die Hand und raunte ihr zu: „Ich weiß, wo sie ist.“
„ Dann hol sie doch gleich!“, flüsterte sie ihm zurück.
„ Ich hol sie.“
Aber als er die Türe öffnete, schlüpfte ein schmaler, blonder Mädchenkopf herein, wollte bubenhaft lachen und verstummte jählings als ihr alle eindringlich und bedeutsam Schweigen zuzwinkerten. Tess wusste sofort, um was es ging, schob wie ein Marder den sportlich gestählten, gertenschlanken Körper herein, lachte geräuschlos zum Schreibtisch hinüber und schlich sich heran – näher, näher, bis sie den Arm um die Schulter des Patriarchen legen konnte und herumschnellend knickste, lachte und es heraussprudelte: „Mein Pony, Papa!? Mein Schecken! Mein Liebstes!“
„ So, so! Und wir!? Und unsere Gäste?“ Über den Kneifer hinweg musterte er sie. Schon zwinkerte es in seinen Mundwinkeln, als ihm die Garderobe des Rackers ins Auge fiel, gleich war die Falte zwischen den Brauen wieder da. Aber schon war Tess in tiefe Kniebeuge niedergegangen, ein Kuss auf jede Hand des Vaters, ein Blümchen ins Knopfloch genestelt und draußen war sie wieder, ehe er noch ein Wort des Tadels gefunden hatte. Nein, leicht war es nicht mit ihr. Viel bewundernde Blicke folgten ihr aus dem Zimmer nach. Das war Tess.
Die Baronin schlüpfte zu ihrem Gatten an den Schreibtisch. „Ist sie nicht reizend, unsere Jüngste?“, raunte sie ihm ins Ohr. „Kann sie sein!“, gab er zurück, nicht leise.
„ Unser Sonnenschein!“
„ Wenn sie nicht gerade Regentage hat!“
„ Und so vielseitig begabt!“
„ Mit so vielseitigen Launen!“
„ Na, na. Väterchen! Der beste Wein muss gären.“
„ Aber nicht zwanzig Jahre lang!“, lachte er grimmig auf.
„ Was langsam reift, ist zu Großem berufen, sagt unser Doktor.“
„ Möchte wissen, wie das Große aussieht, was unsere jüngste Tochter mal der Familie hinterlässt. Die große Linie, die unser Haus bisher verfolgt hat, hat sie jedenfalls noch nicht erkannt.“
„ Sind ihre Zeugnisse nicht immer glänzend gewesen?“
„ Was kauf ich mir dafür!“
„ Und ihre Preise im Reiten, ihr Tanz, ihr Sport und …“
„ Und ihr niveauloser Verkehr an der Universität!“, fuhr der Alte gereizt auf. „Glaubt ihr, ich wüsste nicht, was sie so nebenher treibt, wenn wir hier meinen, sie sei in der Pension gut aufgehoben und lerne Tanz Konversation und unsere deutschen Klassiker?“
Die Baronin wich entsetzt zurück, sachte zog sie der Sohn in den dämmerigen Hintergrund und aus der Türe. Gegen den Vater mussten sie alle zusammenhalten, wenn sie sich behaupten wollten.
Ehe noch der erste Gast in den Salon geführt wurde, war Tess da. Fast wie eine Fremde erschien sie in der Abendgarderobe, ein Lächeln flog über die Mienen aller Anwesenden. Selbst der Vater konnte sich der Wirkung dieses Augenblickes nicht erwehren, es zuckte wirklich in seinen Augenwinkeln. „Man könnte meinen, sie käme geradewegs von der Bühne, so schnell hat sich das Kind verwandelt“, raunte er seiner Frau zu.
Tess errötete ein wenig, dem Vater gegenüber hatte man immer irgendwie ein schlechtes Gewissen. Hatte er erfahren, dass sie in Tübingen bei Bekannten einige Male wenigstens mitgeprobt hatte? Ach, nicht einmal, dass sie dieses lange Chiffonkleid selbst angefertigt hatte, durfte er wissen. Nur dass man sich sicher darin bewegte, so sicher wie in dem gewohnten Sportdress, konnte man ihm in Ehren zeigen. Tess spürte, mitten in dem Trubel der Begrüßungen, dass seine Augen eine Weile mit Wohlgefallen auf ihr ruhten, und es kam ihr leise zum Bewusstsein, dass sie sich
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