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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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mitteleuropäischer Sommerzeit und schon den ganzen Tag und den Traum davor quält, erhielte der Roman, den ich schreibe, eine andere Beschaffenheit, weil er ihn dann prinzipiell nicht veröffentlichen oder auch nur der Frau zu lesen geben könnte. Offenbar genügt es ihm nicht, sich Sie großgeschrieben als Geister vorzustellen oder seinetwegen als Nachfahre, Nachmieter oder Nachlaßverwalter. Daß die Literatur ihm erlaubte zu sagen, was er von sich nie sagen würde, gehörte zu seinen Privilegien. Im Roman jedoch, den ich schreibe, wählt er allenfalls aus, wovon er berichtet, und zwar nicht nur nach Kriterien der Literatur, sondern auch nach solchen, die mit der Literatur nichts zu tun haben und deshalb zu ignorieren wären. Vielleicht sollte er die Person wechseln.
    Von Ursula muß gesagt werden, daß sie bestimmt nicht so ruhig war, wie es das Bild und damit die Nachwelt behauptet, als ihr der Engel in Köln ankündigte, bei ihrer Rückkehr gefoltert, geschändet und zum Schluß geschlachtet zu werden, sie und alle ihre Gefährtinnen, elftausend an der Zahl und allesamt Jungfrauen, so heißt es in der Überlieferung, aber es heißt schließlich auch »Krone des Martyriums empfangen«, wenn die Überlieferung Menschenschlachtung meint. Ohnehin läßt das Bild und damit die Nachwelt nichts von der Besessenheit erahnen, mit der Ursula allein aus der Bretagne zog, um ihren Vater vor dem Zorn des englischen Königs zu retten, erst zehn Freundinnen und dann elftausend Jungfrauen um sich scharte, sie zum Christentum bekehrte und im Kriegsdienst ausbildete, Goldlöckchen, Pausbäckchen, Stupsnäschen, ja, das hat sie auf dem Bild, dazu das notorische Schmollmündchen, aber nichts von der Glut, nichts von Gewalt, nichts von ihrem unfaßbaren, überirdischen oder, das trifft es genau: übersinnlichen sex appeal , deretwegen ihre Erscheinung, nein, nicht einmal das, deretwegen das bloße Hörensagen auf Könige, Königinnen und Königssöhne in ganz Europa, auf den Papst und viele Bischöfe sirenenhaft wirkte. Auf Königreiche verzichteten sie, auf Götzen oder Papsttum, nur um mit Ursula zu sein, ihrem Glauben zu folgen, ihrer Mission zu dienen, obwohl die schönsten, kühnsten, klügsten Jünglinge nicht einmal im Traum hoffen durften, sie je zu besitzen. Was das betrifft, war Ursula entschlossen wie in allem, und sie impfte jeder einzelnen ihrer elftausend Jungfrauen ein, daß sie sich niemals niemandem hingeben durften, keinem Mann, niemals, hört ihr?, niemals, so muß sie gesagt haben, in welcher Sprache auch immer, bretonisch oder germanisch, auf latein oder im Alt- beziehungsweise Mittelhochkölsch jener Jahre, niemals, dann sind wir ausgeliefert, verloren, verraten. Wie sie es untereinander hielten? Nun, »sie fuhren zusammen und trennten sich wieder«, heißt es in der Überlieferung, sie »bekriegten sich oder täuschten Flucht vor, übten sich in jeder Art von Spielen und ließen nichts weg, was ihnen einfiel, bald kehrten sie mittags, bald auch spätabends zurück« – kein Wunder, daß alle Männer wild waren auf sie, die sich ihnen zu Tausenden und Abertausenden entzogen (und nur die Religion bot damals einen Grund), kein Wunder auch, daß andere sie nicht leben ließen, keine einzige von ihnen. Ursula, Ursula – ob der Name damals schon so harmlos und hausbacken klang wie heute für uns oder jedenfalls mich, der als Abiturient eine Ursula sehr mochte, die Geige spielte? Ursula, Ursula – von ihr muß man sagen, daß sie sehenden Auges in die Katastrophe zog, sehenden Auges ihre Freundinnen mitnahm und dabei so überzeugte, daß die Freundinnen wohlgemerkt sehenden Auges mitkamen. Sie hat sie alle eingeweiht, elftausend junge Mädchen, alle wußten, was geschehen würde, und alle billigten es, vielleicht, daß der Tod für sie wie Sirenen war – und was wäre dann mit ihrem Leben, was für eines wäre ihr Leben gewesen? Ursula, Ursula – wesentlich ist die Frage, wie der Engel sich fühlte, als er die Prophezeiung überbrachte. Und in welcher Sprache er sprach. Wesentlich zu wissen wären die Worte, mit denen Ursula das bevorstehende Martyrium den Jungfrauen erklärte, ohne daß sie verzagten. Wesentlich sind auch die Hände, die Hände des Engels, die viel älter wirken als sein Gesicht, und die Hände

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