Dein Name

gewünscht hätte, des Urgroßvaters vor allem, der Oberster Rechtsgelehrter Isfahans war und Widersacher des Tyrannen Zell-e Soltan. – Aber ich hatte ja nichts in Händen, entschuldigt sich der Sohn. – Hast du schon gehört, was sie gestern mit der armen Haleh Chanoum gemacht haben? wechselt der Vater lieber das Thema und meint die Tochter des mutigen Ezzatollah Sahabi, der vor drei Tagen über achtzigjährig in Teheran starb, sie Frauenrechtlerin und er Gefährte des Premierministers Mehdi Bazargan, des letzten Politikers, dem Großvater vertraute. – Natürlich, alle sprechen davon, antwortet der Sohn, der jeden Tag das persische Programm der BBC sieht. Um am Begräbnis teilzunehmen, durfte Haleh Sahabi für einen Tag das Gefängnis verlassen, in dem sie seit der Niederschlagung der Proteste vor zwei Jahren einsaß. Am Grab wurde sie tätlich von Milizionären angegriffen und starb. – Wein’ nicht, sagt der Vater, als er den Sohn unterm Headset Luft holen hört: Schau, was auf der Welt los ist, wie sie überall töten. Es sind eben zwei Zeugen mehr vor Gott dem Gerechten. Bitte schick ein Beileidstelegramm in unserem Namen.
    Â»Noch zwei winzige, wirklich letzte Änderungen, die notwendig werden durch die Lektüre meines Bruders, des ›Orthopäden‹, der nun auch alles gelesen hat und mit allem einverstanden ist außer mit zwei Wörtern: / – auf Seite 183, Mitte: sollte es nicht ›vermutet‹, sondern ›erklärt der Orthopäde‹ heißen (Medizinerstolz) / – auf Seite 378 sollte in der fünften Zeile des 2. Absatzes das Wort ›ausgerechnet‹ gestrichen werden. / Gibt es schon einen neuen Zeitplan? / Vielen Dank und beste Grüße aus Tulsa«
    Â»Wir kümmern uns um alles, auch um den Orthopäden. Zeitplan siehe Anhang, bitte nicht mehr dran rütteln. Dank & Gruß aus München«
    In Los Angeles, wo Doktor Jordan begraben liegt, steht der Enkel am Samstag, dem 11. Juni 2011, um 10:15 Uhr vor dem verschlossenen Tor der Presbyterianischen Kirche. Er geht um das Gebäude aus Ziegeln, das wie ein rotgekleidetes Mädchen zwischen grauen Erwachsenen steht, rüttelt vergeblich an mehreren Türen, läuft über den leeren Parkplatz an der Rückseite, läßt den Kindergarten der Kirche links liegen und findet schließlich hinter einer Glastür einen blau uniformierten Wachmann, den er klopfend heranwinkt. Durch den Spalt, den der Wachmann öffnet, fragt der Enkel, ob der Pastor zu sprechen sei. Offenbar sind sein Tonfall oder sein Blick dringlich genug, damit der Wachmann sich gar nicht erst nach dem Anliegen erkundigt, um den Enkel eintreten zu lassen und den Pastor herbeizurufen, der sich die atemlos vorgetragene Lebensbeschreibung Großvaters geduldig anhört und erst räuspert, als der Enkel auch noch die akademischen Titel der nachfolgenden Generationen aufzulisten beginnt. Zum Schluß bedankt sich der Enkel für alles, was ein Presbyterianer für Iran, für die Nachfahren des Schafi und ihn ganz persönlich getan habe: Was aus uns wurde, verdanken wir einem Mitbruder Ihrer Kirche. Den Namen von Großvaters Schuldirektor hat der Pastor noch nie gehört, findet es aber erstaunlich, wie Samen, die jener auf einer anderen Erde gepflanzt, hundert Jahre später auf diesem Teil der Erde ungeahnte Blüten hervorbringen, und kann gar nicht glauben, daß die zweitgrößte Straße Teherans nach Doktor Samuel Jordan benannt ist. Leider hat er nicht viel Zeit, um zwölf Uhr die Konfirmanden, morgen Pfingsten: Danke für die frohe Botschaft. Noch 526.
    Die Setzerin erinnert daran, daß jeder Absatzwechsel umgerechnet sechzig Anschläge kostet.

 
    Ãœber den Autor
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    Navid Kermani
    Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren. Er ist promovierter Oriantalist und lebt als Schriftsteller in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit dem Kleist-Preis. 2011 erschien bei Hanser sein großer Roman Dein Name.