Dein Name
vertändelte er, indem er die Fernbedienung für den Fernseher einrichtete und vor Freude, daà es ihm gegen alle Erwartung gelang, nach Jahren wieder das Nachrichtenjournal im ersten Kanal und anschlieÃend einen Komödianten anzuschauen, der allerdings einen noch schlechteren Tag hatte. Ohne den Fernseher leiser zu stellen, klappte er den Laptop wieder auf und klickte sich, als die Werbung eines elektronischen Antiquariats aufleuchtete, von Buch zu Buch zu den sämtlichen Werken, Briefen und Dokumenten Friedrich Hölderlins, die er für 49,99 Euro zuzüglich Versandkosten bestellte, während er FrAndrea33 im Chat idealere Orgasmen auf dem Perserteppich bereitete, als er es in Wirklichkeit je vermöchte. Der erste Kanal strahlte bereits die Spätnachrichten aus. Navid Kermani ist müde, weil er wie jede Nacht nicht einschlafen konnte und wie jeden Morgen die Tochter zur Schule bringen muÃte. Das wichtigste, nein, das vorerst einzige: die Handlung des Gedächtnisses herauszufinden, das er verrichten will. Erst danach wird er sich mit dem nächsten Problem befassen, »schlafen, wenn man müde ist, essen, wenn man hungert«, wie der Meister Baso Matsu im achten Jahrhundert die Lehre des Zen-Buddhismus zusammenfaÃte. Aus Gründen, die er zu benennen sucht, gefällt ihm der Anfang. Setzen Seelenreisen stets in metaphysischem Schmerz ein, wäre seine nur die gewöhnlichste Not, die Liebe am Boden, zugleich die Frau schwer erkrankt, so daà der Gedanke an Trennung nicht ausgesprochen werden darf, das gemeinsame Kind allein zu versorgen, fehlende Anerkennung, tiefgreifende Selbstzweifel, finanzielle Engpässe, Lohnarbeiten, die Tage von Terminen zerstückelt, die er nicht selber festlegt. 10:51 Uhr auf dem Laptop, also Viertel vor ungefähr. Weil er es gestern nicht mehr geschafft hat, muà er heute ins Museum, um sich für ein Gemälde zu entscheiden. Seine Augen brennen von der Müdigkeit oder vom Heuschnupfen, der ihn letztes Jahr zum ersten Mal plagte. Dieses Jahr muÃte er nur zwei Tabletten nehmen, heute dann wahrscheinlich die dritte. Allerdings war er dieses Jahr auch noch nicht im Bergischen Land, wo er die umgebaute Scheune einer ehemaligen Weberei angemietet hat, unten Küche und Bad, darüber ein Dachboden vollständig aus Holz, schräge Wände, Ausblick auf Wiesen und Kühe. Heute wollte die Familie fahren, aber da die Frau mit ihrem Gips einen unabweisbaren Grund vorwies, verhindert zu sein, bleibt die Familie doch in Köln und schaut das Eröffnungsspiel mit Freunden auf der Terrasse. Er selbst wäre trotz des Heuschnupfens gefahren, um die Tochter zu belügen, daà sie wieder eine Familie sind. Letztes Jahr verschwanden die Pollen, die ihm zusetzen, Anfang oder Mitte Juni von einem auf den anderen Tag, auf den er dieses Jahr also nur warten müÃte, um sich wieder aus der Stadt herauszutrauen. Er wollte nur fahren, gesteht er sich ein, damit die Frau wieder nein sagen muÃte. Aufs Klo muà er noch, danach stöpselt er das Kabel in die Buchse und lädt ein weiteres Mal die E-Mails herunter. Im Radio läuft Beethoven, Klavierkonzert, das erste, zweite, dritte oder vierte. Normalerweise hört er keine Musik, wenn er schreibt. Diesmal stört es ihn nicht. Die Bücher sind schon eingeräumt, jetzt fehlen noch die Unterhosen.
Der Vater hat gestern auf dem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen, daà die Tante krank sei. Indem Navid Kermani mit einem Satz, den er später ebenso streichen wird wie alle Namen auÃer von Toten und von Dichtern, indem er erklärt, wer diese Tante ist, wendet er sich an einen Leser. Noch einen Absatz zuvor dachte er daran sowenig wie in den Tagebüchern des Heranwachsenden, der sie in der Schublade einschloÃ. Allein das BewuÃtsein, daà den Satz einmal ein anderer lesen wird, verändert ihn, deshalb der Impuls, die Tante mit Namen und wesentlichen Charakterzügen vorzustellen. Es ist kein Tagebuch. Ein Gedächtnis will dauern, auch wenn niemand daran teilhaben wird. Für wen auch immer will Navid Kermani festhalten, was auf Erden geschieht. Er meint nicht die Ereignisse des Tags, die bei einem Autor, der nichts mehr zu Papier bringt, aus einem neuen Regal oder einer Radiosendung bestehen mögen, auch nicht den Alltag eines Manns, dessen Frau ein Pflegefall und dessen Ehe ein Pflichtanteil geworden ist. Schon der Heranwachsende hatte kein
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