Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
einem großen Raum bestand, der zugleich Wohnraum, Esszimmer und Küche war. Um das Haus verlief eine überdachte Veranda. Früher hatten Caroline und ihre Freunde während der langen hellen Sommernächte oft zusammen dort draußen gesessen, gehüllt in den Qualm der Räucherware, die sie gegen die Mücken entzündet hatten. Die Schweden besaßen ein wunderschönes Repertoire an alten, melancholischen Liedern, und sie liebten das Singen ebenso sehr wie das Trinken.
Björn zog seine dicke Daunenjacke aus und ließ die Stiefel neben der Tür stehen. Der Geruch von geschlagenem Holz, Baumharz und Maschinenöl umgab ihn. Sein Blick streifte die Sitzgruppe vor dem Kamin und blieb an dem Foto auf dem Couchtisch hängen, das sie zusammen mit Lianne zeigte. Sie biss sich auf die Lippe, aber Björn sagte nichts. Er nahm am Küchentisch Platz und schob die Ärmel seines blauen Wollpullovers hoch. Eine helle Narbe kam zum Vorschein. Sie zog sich über das untere Drittel seines rechten Unterarms und lief auf seinem Handrücken aus. Diese Narbe war Caroline so vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild. Als ihr bewusst wurde, dass sie darauf starrte, wandte sie sich hastig ab, aber er schien ihre Verlegenheit nicht zu bemerken. Sie reichte ihm seinen Kaffeebecher und setzte sich zu ihm.
»Das Wetter schlägt um«, sagte er.
Sie sah ihn fragend an. »Du meinst, es wird noch mehr Schnee geben?«
Er nickte. »Hast du alles, was du brauchst?«
»Ich denke schon.«
»Auch genügend Holz?«
»Hinter dem Haus ist der Vorrat für einen ganzen Winter aufgestapelt.«
»Das sollte wohl reichen«, stellte er lächelnd fest.
Mit einem »Danke fürs Aufwärmen« verabschiedete er sich wenig später und tippte zum Gruß mit dem Finger an die Schläfe.
Caroline sah seinem Wagen nach und stand auch noch am Fenster, als er längst zwischen den schneebedeckten Bäumen verschwunden war. Björn hatte nicht gefragt, warum sie nach all den Jahren gekommen war, auch nicht, wie lange sie bleiben würde. Sie war einfach wieder da. Wenn etwas sein sollte, wusste sie, wo sie ihn finden konnte. Das signalisierte er durch seinen Besuch. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er um sie geworben in seiner stillen, aufrichtigen Art. Das war lange her.
Caroline räumte die Kaffeebecher ab und spülte das Geschirr, und irgendwo in einem verborgenen Winkel ihres Bewusstseins spürte sie, wie sehr ihr dieser Ort, ihr Zuhause, gefehlt hatte. Wie tröstlich es war. Als sie sich vom Fenster abwandte, hörte sie in der Ferne wieder den Ruf des Bussards.
Mit der Abenddämmerung kam Wind auf, und Wolken trieben über die Bergkuppen wie große, im Mondlicht schimmernde Schiffe. Björn sollte recht behalten. Es würde Schnee geben.
Caroline warf Holz nach, und die Flammen im Kamin loderten auf. Der Hund ließ sich mit einem zufriedenen Seufzen davor nieder. Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa, und mit einem Mal meinte sie, im Prasseln des Feuers das Rascheln der Zeitung zu hören, die ihr Vater las, und das leise Klappern der Stricknadeln ihrer Mutter. Es waren lange, ruhige Abende gewesen, die sie hier miteinander verbracht hatten, vor allem im Winter, wenn die Dämmerung bereits nachmittags hereinbrach und die Nacht die Welt bis weit in den nächsten Morgen umschlungen hielt. Die Erinnerung daran brachte so eindringlich den Duft und Geschmack des Zimtkuchens mit, den sie damals immer gegessen hatten, dass Caroline aufstand und in die Küche ging, um zu sehen, ob die alten Kochbücher ihrer Mutter noch dort standen. Sie fand sie im obersten Fach des Küchenschranks. Andra hatte nichts verändert, als sie das Haus in ihre Obhut genommen hatte.
Caroline nahm die Bücher mit ins Wohnzimmer, und sie entpuppten sich als Alben voller Erinnerungen. Zwischen den Seiten steckten unzählige Zettel: handgeschriebene Rezepte, Einkaufslisten, Bilder, die sie ihrer Mutter gemalt hatte, hastig geschriebene Notizen ihres Vaters. Die Seiten mit den Lieblingsrezepten wiesen Fettspritzer und Eselsohren auf. Behutsam strich sie die Blätter glatt, verharrte mit den Fingern darauf, als ob ihr diese kleine Berührung die Eltern, die so tragisch zu Tode gekommen waren, wieder nahebringen konnte. Hatte sie Lianne eine ebenso friedvolle und behütete Kindheit gegeben, wie es einst ihre Eltern getan hatten? Sie nahm das Foto vom Couchtisch, das sie zusammen mit ihrer Tochter zeigte, und legte es zwischen die aufgeschlagenen Seiten eines der Bücher. Behutsam klappte sie das Kochbuch
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