Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
noch dichter als zuvor. Eiskalte Luft strömte in ihre Lungen, zwang sie zum Husten. Lautlos tauchte der Hund neben ihr auf, stieß sie an. »Schon gut«, flüsterte sie mit rauher Stimme. »Schon gut.«
Zurück im Haus, nahm sie aus der Reisetasche das Foto, das Andra ihr mitgegeben hatte, und sank auf das Sofa, auf die weichen Felle, ohne den Blick davon abzuwenden. Es zeigte ihr eigenes Gesicht neben dem von Lianne, sie standen Arm in Arm, die Köpfe dicht aneinander, und lachten übermütig in die Kamera. Es war nur wenige Wochen vor Liannes Tod aufgenommen worden. »So sollst du deine Tochter in deinem Herzen behalten«, hatte Andra Caroline ermahnt. »So sollst du dich an sie erinnern.«
Caroline strich behutsam mit dem Finger über die Konturen von Liannes zartem Gesicht, blickte in ihre strahlenden grünblauen Augen. So sollst du dich an sie erinnern. Es war so schwer. Die anderen Bilder, die dunklen, hässlichen, besaßen mehr Macht als die hellen, schönen Erinnerungen. Vielleicht würden sie verblassen, wenn sie mit niemandem mehr darüber redete, wenn sie einfach so tat, als wäre nichts geschehen.
Plötzlich war Caroline erleichtert, dass außer ihrer Tante niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Von heute auf morgen war sie mit nicht mehr als einer Reisetasche und dem Hund aus ihrem bisherigen Leben geflohen. Selbst das Handy hatte sie stillschweigend in einer Kommodenschublade bei Andra liegen lassen.
Das Haus am Bergsee besaß weder einen Telefon- noch einen Internetanschluss. Wenn Andra mit ihr Kontakt aufnehmen wollte, müsste sie die Tankstelle im Ort anrufen. Der Pächter würde nach Feierabend rausfahren und Caroline informieren oder ihr einen Zettel an die Tür heften, falls sie nicht da sein sollte. So, wie sie es früher gemacht hatten.
Früher.
Caroline ließ das Foto sinken, als ihr die Bedeutung dieses Wortes bewusst wurde. Eine ganze Welt lauerte dahinter, es war wie eine Tür, die sie nur öffnen musste, um zurückzukehren und zu vergessen. Früher bedeutete die Zeit vor Liannes Geburt.
*
Wie knüpft man an vergangene Zeiten an, die so weit zurückliegen, dass sich Erinnerung und Phantasie längst miteinander verwoben haben?
Zehn Kilometer waren es ins Dorf, das nur aus einigen wenigen Häusern, einem Supermarkt, einer Tankstelle und einer Kneipe bestand, und Caroline war, als ob sie mit jedem Meter, den sie zurücklegte, ein Stück tiefer in ihre eigene Vergangenheit gezogen wurde. Die Witterungsverhältnisse zwangen sie, langsam zu fahren. Die Straße war schmal, zu beiden Seiten hatten Räumfahrzeuge den Schnee zu Wällen aufgetürmt. Die Fahrbahn lag unter einer festgefahrenen weißen Decke. Der See an ihrer Seite hatte das Tal ausgefüllt, das die Gletscher der letzten Eiszeit in die Höhenzüge geschliffen hatten. An den umliegenden Hängen zog sich der lichte Wald des Nordens hinauf, die Zweige der Kiefern und Fichten schwer von der weißen Last, die sie trugen.
Caroline ließ die letzte Kurve hinter sich. Dunkelrote Holzhäuser tauchten zwischen den Bäumen auf. Dicke Eiszapfen hingen von ihren Vordächern herunter und warfen funkelnd das Sonnenlicht zurück. Aus den Schornsteinen stieg Rauch in einen klaren, tiefblauen Himmel. Es war ein heimeliger Anblick, der die Einsamkeit und Weitläufigkeit der skandinavischen Bergwelt, die diesen Flecken umgab, für den Moment vergessen machte.
Nur wenige Fahrzeuge standen auf dem Parkplatz vor dem langgestreckten, ebenfalls dunkelrot gestrichenen Gebäude des Supermarkts. Unsicher stieg Caroline aus dem Wagen. Noch war sie niemandem begegnet. Und sie wollte auch niemandem begegnen und vor allem mit niemandem reden. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie den Supermarkt betrat und sich der möglichen Tragweite ihrer Entscheidung bewusst wurde, in das schwedische Bergdorf ihrer Kindheit zurückzukehren. Was tat sie hier? Die Flucht in die Vergangenheit, die ihr in der Einsamkeit des Hauses so verlockend erschienen war, jagte ihr nun Angst ein. Langsam schritt sie zwischen den Regalreihen hindurch, füllte abwesend ihren Einkaufskorb und verharrte, bevor sie sich der Kasse näherte. Doch die Kassiererin begrüßte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als wären sie sich erst vor wenigen Tagen begegnet. »Schön, dass du wieder hier bist.«
Verhalten erwiderte Caroline das Lächeln der Frau, betrachtete die Fältchen um ihre Augen und die grauen Strähnen in ihrem dunklen Haar. Sie war noch immer hier, an dieser Kasse. Und Caroline
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