Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
fragte sich, ob ihr Mann noch immer in Göteborg arbeitete und nur an den Wochenenden zu Hause war. Damals hatte Caroline von ihr wissen wollen, warum sie nicht mit ihm wegzog, so wie es die meisten taten. »Ich bin hier am See aufgewachsen. Ich würde mich eher von meinem Mann trennen, als von hier wegzugehen«, hatte die Kassiererin damals geantwortet.
Caroline räumte die Papiertüten mit den Einkäufen ins Auto und ging zur Tankstelle auf der anderen Straßenseite. Ein Auto fuhr vorbei, und der Fahrer grüßte. Sie winkte intuitiv zurück, ohne dass sie ihn erkannt hätte.
Das Gesicht des Tankstellenpächters verzog sich zu einem breiten Grinsen, als sie die Tür öffnete. Auch an ihm waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Er war schon immer dick und kurzatmig gewesen, jetzt war er fett und sein schütteres Haar einer Glatze gewichen. »Hab schon gehört, dass du da bist«, begrüßte er sie schnaufend. »Ist lange her.«
»Achtundzwanzig Jahre«, bestätigte Caroline intuitiv auf Schwedisch, das ihr von Kindesbeinen an wie eine zweite Muttersprache war. Sie kramte nach Kleingeld. »Ich müsste mal telefonieren.«
»Du weißt ja, wo es steht«, erwiderte er.
Caroline ging in sein Büro. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte er noch keinen Computer gehabt, aber der Aschenbecher war genauso voll gewesen. Sie setzte sich und wählte Andras Nummer.
»Es geht mir gut«, sagte sie hastig, bevor ihre Tante fragen konnte und sie sich zu einer anderen Antwort hinreißen ließ. »Und mit dem Haus ist alles in Ordnung.«
»Thomas war hier.«
Caroline hatte es geahnt. »Du hast ihm nichts gesagt, oder?«
»Natürlich nicht, aber ich soll dir etwas ausrichten, falls du dich meldest.«
»Ich will es nicht hören.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, bemerkte Andra ruhig. »Lass dir Zeit, Kind.«
Es gab nicht mehr viel zu sagen, und so beendeten sie ihr Gespräch. Caroline legte den Hörer zurück auf die Station und stand auf. Durch das Fenster blickte sie auf den zugefrorenen See und dachte an die Worte der Kassiererin. Alles hier war eins, die Menschen, das Land, der See, der so allgegenwärtig und wichtig war wie die Luft zum Atmen. Selbst im Winter, wenn alles gefroren war und Schnee das Land bedeckte. Dann bohrten die Männer Löcher ins Eis und angelten nach den großen schimmernden Forellen.
»Das Geld liegt auf dem Schreibtisch«, bemerkte sie beim Hinausgehen.
»Bis demnächst, Lilli«, rief der Pächter ihr hinterher, und ungeachtet der Beklemmung, die sie verspürte, lächelte sie. Nirgendwo sonst auf der Welt wurde sie so genannt, außer in ihrem Elternhaus. Sie hatte den Namen lange nicht gehört.
*
In einer Gegend, die von der Zeit gänzlich unberührt scheint und wie in einem Dornröschenschlaf schlummert, bleibt nichts unbeobachtet. Der Tankstellenpächter war nicht der Einzige, der bereits darüber informiert war, dass sie zurückgekehrt war. Als Caroline am Nachmittag mit dem Hund von einem kurzen Spaziergang zurückkam, fuhr ein roter Pick-up auf ihr Haus zu. Blubbernd kam der große Achtzylinder amerikanischer Bauart näher, und sie ahnte, wem er gehörte.
Kurze rotblonde Bartstoppeln verdeckten die untere Hälfte von Björn Nyborgs kantigem Gesicht, und unter der Wollmütze leuchtete sein helles Haar in der tiefstehenden Sonne, als er sich an der Grundstückseinfahrt aus dem Fahrerfenster lehnte und ihr sein strahlendes Lächeln schenkte, unbekümmert und alterslos wie eine skandinavische Ausgabe von Robert Redford. »Hej, wollt nur mal schauen, wie es dir geht. Ob du irgendwas brauchst.«
Es kam ihr mit einem Mal vor, als wäre sie nie fort gewesen.
»Alles in Ordnung«, versicherte sie.
»Gut«, sagte er nickend.
Sie sahen sich schweigend an. Und sie fragte sich, ob er etwas wusste. Aber es war unmöglich. Niemand hier ahnte, was geschehen war. Warum sie zurück war. Sie blickte an Björn vorbei zu den abgerundeten weiß glitzernden Kuppen der Berge, atmete tief die eisklare Luft ein und zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie durfte sich den Frieden nicht nehmen lassen, den dieses Land verhieß. Was auch geschehen war, hier hatte sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht. Daran wollte sie sich erinnern, an nichts anderes. Sie räusperte sich. »Willst du einen Kaffee?«
Er zögerte, fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Kinn, dann parkte er den Wagen in der Auffahrt und folgte ihr ins Haus, das neben drei Schlafzimmern und dem Bad aus nur
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