Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
zu und stellte es mit den anderen zurück in den Küchenschrank.
In dieser Nacht träumte sie mit einer Intensität von ihrem Vater und ihrer Mutter, die sie am nächsten Morgen so einsam machte, dass sie glaubte, es nicht ertragen zu können. Doch das Gefühl der Verlassenheit wich, als ihr die Details des Traums ins Gedächtnis kamen: Episoden eines Tages mit Lianne und ihren Eltern, Gespräche – und unbeschwertes Gelächter. Ja, sie hatten gelacht, das war einer der eindringlichsten Eindrücke ihres Traums. Caroline hatte seit Liannes Tod nicht mehr herzlich gelacht und sich dabei so leicht gefühlt. So glücklich. Wie sollten die Menschen, die ihr einst am wichtigsten gewesen waren, ihr noch zürnen, wenn sie mit solcher Vehemenz ihre Nähe spürte? Caroline sah hinaus auf den See und die Berge, auf die der Schnee in dicken Flocken herabfiel, und das erste Mal seit Wochen keimte ein kleiner Funken Zuversicht in ihr.
2.
E s fiel ihr nicht auf, dass sie sich veränderte. Aber andere merkten es. Die Kassiererin im Supermarkt. Björn. Selbst Andra bemerkte es, obwohl sie nur sporadisch miteinander telefonierten.
»Der Norden scheint eine heilende Wirkung auf dich zu haben«, sagte ihre Tante. »Was machst du den ganzen Tag? Hast du wieder angefangen zu arbeiten?«
Caroline lachte schuldbewusst auf. »Ich habe noch keine einzige Zeile geschrieben, seit ich hier bin.«
»Du hast abgenommen«, stellte Björn fest, als sie sich zufällig im Ort trafen.
Sie zupfte an dem lockeren Bund ihrer Hose. »Ich bin viel unterwegs«, erwiderte sie ausweichend.
»Unterwegs. So.« Björn kniff die Augen zusammen und warf wie zufällig einen Blick in den wolkenlosen Himmel. »Es war jemand hier und hat nach dir gefragt. Ein Deutscher.«
Ihr Mund war plötzlich trocken.
»Etwa eins fünfundachtzig groß, schlank, dunkelhaarig, Städter«, fügte er hinzu. »Er ist heute Morgen angekommen. Hat er dich schon gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf und schluckte.
Björn maß sie von oben bis unten. »Willst du drüber reden?«
»Wir wollten heiraten«, sagte Caroline, als sie Björn in der einzigen Kneipe des Ortes gegenübersaß. Zwei große Bier standen vor ihnen auf dem zerkratzten Tisch. In der Ecke dudelte eine in die Jahre gekommene Jukebox.
»Heiraten«, bemerkte Björn und nahm einen langen Schluck. »Damit hab ich auch keine guten Erfahrungen.«
»Du warst verheiratet?« Ungläubig starrte sie ihn an.
Er lächelte verlegen. »Sie sah gut aus und konnte kochen.«
Caroline seufzte. »Und woran ist es gescheitert?«
»Sie wollte hier weg.«
Caroline dachte an die Kassiererin.
»Jetzt erzähl deine Geschichte«, unterbrach Björn ihre Gedanken.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Thomas und ich waren drei Jahre zusammen, und vor etwa einem Monat hat er mir einen Antrag gemacht.«
»Und du hast eingewilligt.«
Sie nickte.
»Was ist dann passiert?«
»Ich weiß es nicht. Es war …« Sie brach ab.
Es war auf der Beerdigung von Lianne gewesen. Sie hatte ihn am Grab stehen sehen und es gewusst. »Er … er war nicht der Richtige …« Caroline senkte den Kopf.
»Du bist weggelaufen«, hörte sie Björns Stimme.
Sie schämte sich zu sehr, um sich zu rechtfertigen. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich auf diese Weise aus der Affäre gezogen hatte. Björn hatte bis jetzt nicht ein Wort darüber verloren, es lag nahezu dreißig Jahre zurück.
Er räusperte sich. »Weißt du inzwischen, warum er nicht der Richtige ist?«
Sie sah auf. »Er würde niemals hierher passen.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Björns unrasiertes Gesicht. »Das habe ich auch gedacht, als ich ihn gesehen habe.« Über den Tisch hinweg griff er nach ihrer Hand. »Du musst dich mit ihm treffen.«
»Das kann ich nicht.«
»Lilli, er verdient eine Erklärung.«
Er reichte ihr eine Serviette, und sie wischte sich die Tränen fort.
»Aber ich kann es ihm nicht erklären.«
»Wenn er dich sieht, wird er es verstehen.«
Caroline fuhr nach Hause, blickte das erste Mal seit zwei Wochen bewusst in einen Spiegel und begriff, was Björn ihr hatte sagen wollen. Sie war verwildert.
*
Thomas ist da. Der Satz spukte in ihrem Kopf herum und blockierte ihre Gedanken. Thomas wusste nichts von ihrem Elternhaus in Schweden. Es gehörte in einen anderen Lebensabschnitt, der ferner von ihm nicht hätte sein können. Deswegen war sie hierher geflohen.
Andra hatte ihm sicher nichts erzählt. Auf ihre
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