Deine Lippen, so kalt (German Edition)
zitterst.«
Darauf kann ich ihm keine Antwort geben. Keine ehrliche jedenfalls. Mit dir stimmt etwas nicht, möchte ich sagen. Das hier ist falsch. Ich lag so, so dermaßen falsch, als ich dachte, ich könnte das hier durchziehen. Oder vor der Welt verstecken.
Stattdessen flüstere ich nur leise. »Kalt.«
Er hält mich fester, streichelt meinen Rücken. Davon wird mir nicht wärmer, aber ich bleibe trotzdem bei ihm, bis es dunkel ist, weil er mich gerne bei sich hat. Er scheint lebendiger zu werden, sobald ich auf den Dachboden komme. Wann immer es mir gelingt, mich die Stufen hinaufzuschleichen, ohne dass er mich hört, liegt er stets so dahingegossen auf dem Bett wie eine Marionette, die ihr Puppenspieler beiseite geworfen hat.
Ich kann nicht davor davonlaufen. Ich kann mich nicht vor ihm verstecken. Weder in der Bücherei noch sonst wo.
Was mir ebensoviel Angst macht, ist die Ahnung, dass ich mich auch vor Gabriel nicht verstecken kann.
Kapitel fünf
D ie Leute sagen immer, sie fühlen sich betäubt oder leer, wenn sie jemanden verloren haben.
Mir geht es jetzt manchmal so, wenn Danny und ich zusammengerollt auf seinem Bett über der Garage liegen. Aber an den Tagen, direkt nachdem er gestorben war? Auf seiner Beerdigung? Ich fühlte mich, als wäre ein Glas über mich gestülpt worden, sodass alles in mir – Wut, Trauer, Grauen – lauter, stärker tönte und sich zu einem Dröhnen steigerte, das ich bis in die Knochen spürte.
Als wir neben seinem Grab standen, war das einzige Geräusch, abgesehen von der Stimme des Pfarrers, die über den ewigen Frieden sprach, das Schluchzen von Dannys Mutter. Dannys Vater hatte seinen Arm um sie gelegt, um sie zu stützen, aber er biss die Zähne dermaßen heftig aufeinander, dass ich ziemlich sicher war, er würde auch jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Wir standen einfach alle da, mit gesenkten Köpfen und gefalteten Händen, hörten zu und warteten darauf, dass es endlich vorbei war. Nichts fühlte sich richtig an. Statt grau und verregnet, wie es hätte sein sollen, wie es in Filmen immer ist, war es ein strahlender, heißer Julitag. Die Sonne fiel durch die Blätter des riesigen Ahorns neben der Grabstätte.
An jenem Tag an Dannys Grab dachte ich, dass die vielen Footballspieler und die Kiffer aus seinem Kunstkurs wahrscheinlich froh waren, einen legitimen Grund für das Tragen ihrer Sonnenbrillen zu haben, obgleich allen klar war, dass sie sie so oder so getragen hätten. Es war schwer, nicht die Fassung zu verlieren, während man Dannys Mom und seine kleine Schwester Molly schluchzen hörte, während man seinen großen Bruder Adam die Tränen runterschlucken sah und beobachtete, wie ihm sein Vater die Schulter tätschelte. Niemand von uns hätte sterben dürfen. Das Leben war etwas, das noch vor uns liegen sollte, nicht etwas, das bereits vorüber war.
Als ein paar Schritte hinter uns ein Handy losklingelte, schoss mein Kopf so schnell hoch, dass ich beinah das Gleichgewicht verloren hätte. Meine Mutter legte eine Hand auf meine Schulter. Ich wollte sie abschütteln, aber ich konnte nicht – das Glas, das mich umschloss, würde jede Minute in tausend Stücke zerspringen, und die ganze geballte Energie drohte sich in einer gewaltigen Explosion ihre Bahn zu brechen. Ich musste für einen Moment die Augen schließen, während ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie der akkurat geschnittene Rasen rund um Dannys Grab in Flammen aufging oder ein plötzlicher Windstoß über den Friedhof fegte und die Trauernden gegen die Grabsteine schleuderte.
Ich konnte das niemandem antun, nicht Dannys Eltern und Ryan, nicht Dannys anderen wahren Freunden. Noch nicht mal Danny selbst, obwohl ich wusste, dass der Junge, den ich liebte, nicht wirklich in dem Sarg lag. Jedenfalls nicht der Teil von ihm, auf den es ankam.
Später, als wir wieder zu Hause waren, ging ich in den Keller. Ich hatte mir überlegt, dass ich dort am wenigsten Schaden anrichten konnte – beziehungsweise den größten, der ohne weitreichende Folgen zu haben war. Den Empfang bei Danny zu Hause durchzustehen hatte mehr Selbstdisziplin erfordert, als ich angenommen hatte, auch wenn ich nicht zu mehr in der Lage gewesen war, als im Wohnzimmer mit einem Becher Punsch in der Hand an der Wand zu lehnen und den Leuten zuzunicken, die zu mir kamen, um mich zu umarmen.
Ich hatte noch nicht einmal die Kleidung gewechselt, als ich die Kellertreppe hinunterrannte, und ich knüllte den Saum meines schwarzen
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