Deine Lippen, so kalt (German Edition)
hören, was ich denke, wo immer er auch sein mag.
»Wren«, beginnt Danny, setzt sich ebenfalls auf und schlingt seinen Arm um meine Taille. »Nicht. Nicht … aufhören. Du hörst in letzter Zeit immer auf.«
Verwirrung und Frust lassen ihn jedes einzelne Wort betonen, sie wiegen schwer, und ich gebe ein bisschen nach und lege meinen Kopf an seine Schulter. Es ist alles meine Schuld, alles hieran. Es ist wie eines dieser Heckenlabyrinthe. Ist man erst einmal drin und ohne Orientierung um ein paar Ecken gebogen, bleibt einem nichts anderes übrig, als immer weiterzugehen, bis man seinen Weg herausgefunden hat.
Vor mir liegt noch ein langer Weg, das weiß ich. Bis dahin kann ich nur das hier tun: ihn sanft auf den Rücken stoßen, seine Wangen küssen, seine Stirn, sein Kinn, und flüstern: »Schlaf jetzt, Danny. Schlaf. Ich möchte, dass du schläfst.«
Er kann nichts dagegen tun, obwohl ich sehe, dass er das möchte. Er braucht nicht mal mehr zu schlafen, genau wie er nicht länger essen oder atmen muss. Aber wenn ich ihm etwas wie das hier sage, wenn ich ihm einen direkten Befehl gebe, dann kann er nicht anders.
Ich wusste nicht, dass der Herbeirufungszauber diese Wirkung haben würde, aber ich bin froh, dass es so ist. Danny würde mir nie wehtun, würde mich nie mit Gewalt nehmen, aber da sind so viele Dinge, die ich ihm nicht erklären kann. Wenn er mich in eine Ecke drängt, ist es der einfachste Weg, seinen Fragen auszuweichen.
Er runzelt die Stirn, nur ein bisschen, seine Augenbrauen sind zu einem unwilligen Fragezeichen hochgezogen, aber einen Moment später rührt er sich nicht mehr. Sein Körper entspannt sich Stück für Stück, seine Schultern werden runder, während sie in die Matratze sinken, sein Kopf lauscht zu einer Seite. Die Hand, die sich auf seinem Oberschenkel zu einer Faust geballt hatte, öffnet sich, und ich berühre die nackten, spitzen Knöchel mit einer Fingerspitze.
Er bewegt sich nicht.
Befehle halten nicht ewig. Irgendwann, wenn ich zu lange weg gewesen bin, wird er aufwachen, vermute ich.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich den Ausdruck vor mir, den sein Gesicht in jenem Moment haben wird, die Lippen aufeinandergepresst vor Enttäuschung und Resignation. Ich kenne den Ausdruck, weil er mich jedes Mal so ansieht, wenn ich ihn wach zurücklasse, und es hört nie auf wehzutun.
So ist es einfacher. Zumindest für mich. Auf die Weise kann ich so tun, als wäre wieder Sommer und das Schuljahr gerade erst zu Ende gegangen. Wir lagen aneinandergekuschelt in seinem Bett, während seine Mom arbeiten war. Die Frühsommerluft war angenehm und warm und etwas feucht, und er war eingeschlafen, nachdem … nun, danach.
Es war eins der ersten Male, die ich Gelegenheit bekam, ihm beim Schlafen zuzusehen, und es war seltsam, ihn ganz nah bei mir zu haben, und dann auch wieder nicht. Wie er quasi mit den Laken verschmolz, als wären seine Knochen aus Pudding, und er völlig entspannt schien, das Haar klebte an zwei Stellen an seiner Stirn und ein dünner Schweißfilm überzog sein Schlüsselbein. Nach einer Weile begann er zu träumen und seine Augäpfel bewegten sich unter den Lidern. Er lächelte plötzlich, ein unverhofftes glückseliges Flackern, das über sein Gesicht wanderte, bevor sein Mund sich wieder entspannte.
Das passiert jetzt nie, egal wie lange ich ihm beim Schlafen zusehe. Und ich weiß, genau wie alles andere ist auch das meine Schuld.
Kapitel sechs
A m nächsten Tag gelingt es mir bis zum Lunch, einem Gespräch mit Gabriel und so ziemlich jedem anderem aus dem Weg zu gehen. Da ich am Morgen vergessen habe, mir etwas zu Essen einzupacken, komme ich völlig ausgehungert in die Cafeteria und weiß zudem, dass Jess hier irgendwo sein muss. Wir haben dieses Schuljahr nur die Mittagspause und Sport gemeinsam.
Es riecht nach Sauerkraut und Staub und Schweiß, und ich schnappe mir einen Joghurt und ein Sandwich. Wenn ich schnell aufesse, schaffe ich es wahrscheinlich, mich in die Bibliothek zu stehlen, ohne ihr zu begegnen. Nicht, dass ich denke, sie würde nach mir Ausschau halten. Wenn Jess ordentlich Wut im Bauch hat, bleibt das normalerweise eine ganze Weile so.
Aber es ist nicht Jess, mit der ich zusammenstoße, als ich mich umdrehe und das zerkratzte Plastiktablett in meinen Händen zu zittern beginnt. Es ist Gabriel, der einen Bissen von seinem Apfel nimmt und seinen Kopf zur Seite neigt, als wäre ich irgendein wissenschaftliches Experiment, bei dem er nicht sicher
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