Deine Seele in mir /
dass sie bei ihrer letzten Geburt ein Fliegengewicht gewesen war. Ihre Mutter hatte ihr oft genug erzählt, dass sie, obwohl Amy nur drei Tage vor dem errechneten Termin auf die Welt gekommen war, noch zehn Tage mit ihr im Krankenhaus hatte bleiben müssen. Erst als die Kleine ein gewisses Mindestgewicht erreicht hatte, entließ man sie und ihre Mutter nach Hause.
Panik kroch in Amy empor.
War sie etwa in einem anderen Körper wiedergeboren worden?
War sie äußerlich nun ein völlig anderer Mensch?
Noch ehe sie zu tief in den Fluten ihrer Angst versinken konnte, wurde sie ihrer neuen Mutter an die Brust gelegt. Wie automatisch öffnete sich ihr Mund, und sie begann zu saugen. Dieser Reflex unterbrach ihre Gedanken für einige Minuten.
Es kam nicht viel. Nur einige warme, leicht süßlich schmeckende Tröpfchen. Ein zähflüssiges Etwas. Es schmeckte zwar nicht besonders gut, doch der Rhythmus ihres Saugens und die Körperwärme der Frau, die Amy eng umschlossen in ihren Armen hielt, beruhigten sie, und schon bald schlossen sich ihre Augen.
»Sie ist so winzig. Und sie ist bildhübsch – wie ihre Mom. Ich liebe dich, Kristin!«, hörte Amy Tom gerade noch sagen, bevor sie an der Brust dieser fremden Frau einschlief.
Ihre Auszeit währte nur kurz. Bald schon schreckte sie wieder auf, tausend Gedanken und die Verzweiflung einer Neunjährigen tobten in ihrem viel zu kleinen Kopf.
Ich muss schnell sprechen lernen, damit ich allen erzählen kann, was mir passiert ist. Was uns passiert ist, Matty und mir. Warum hat uns dieser Mann so weh getan? ... Gott, wo ist Matt bloß? Lebt er noch? Werde ich ihn wiederfinden? Und meine Mommy? ... Daddy.
Und da war es wieder – dieses spitze, schrille Schreien, das sogar Amy selbst in den Ohren weh tat und welches auch Kristin, die ihre Tochter selig angesehen hatte, zutiefst erschreckte.
»Was hat sie denn?«, fragte sie. Hastig und ein wenig hilflos zupfte sie die Decke, in die Amy eingehüllt war, bis über die Schultern ihres Babys hoch.
Die Hebamme trat an die Seite der jungen Frau und strich ihr über den Oberarm. Ihr Blick war nachgiebig, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
»Geben Sie Ihrer Tochter Zeit, mit dem Erlebten fertigzuwerden, Kristin. So eine Geburt muss eine Art traumatisches Erlebnis für diese kleinen Wesen sein, meinen Sie nicht? So etwas muss erst einmal verarbeitet werden, und jedes Baby geht anders damit um.«
Ja, ein traumatisches Erlebnis, wie wahr. Zwar begann Amy langsam zu begreifen, von Kontrolle jedoch war sie noch weit entfernt.
Ihr Babykörper reagierte auf all ihre Gedanken und Gefühle in der einzigen Weise, wie es Neugeborene nun einmal tun können. Amys Seele spürte die Berührungen, wie Kristins Streicheln oder den Stich der Nadel in ihre Fußsohle, als man ihr Blut abnahm, doch dieser Körper war ihr fremd.
Innerlich war sie noch immer die Amy, die in wenigen Tagen neun Jahre alt werden würde. Sie sehnte sich nach ihrem alten Leben und zerbrach fast daran, dass dieser fremde Mann mit der Skimaske sie auf solch brutale Art und Weise aus eben diesem Leben gerissen hatte. Zu früh ... vor der Zeit.
In den kommenden Wochen und Monaten war Amy rein äußerlich betrachtet ein normales Baby. Ihre Entwicklung schien altersgerecht zu sein. Die Menschen, die sie umgaben, gewann sie bald schon lieb.
Kristin und Tom waren Mustereltern. Amy war ihr erstes, heiß ersehntes Kind, und beide platzten fast vor Stolz.
Dem Postboten, der Verkäuferin im Supermarkt, den Nachbarn – allen präsentierten sie Amy voller Glück und Stolz. Jeder erfuhr, wie lieb und pflegeleicht ihr Baby sei. Was zugegebenermaßen nicht stimmte.
Denn auch nachdem die ersten fünf Lebensmonate ihres neuen Lebens bereits verstrichen waren, hatte es Amy noch nicht gelernt, sich zu kontrollieren.
So oft sie ihr Zuhause, ihre Eltern, ihre Uromi, Matty und alles, was ihr früheres Leben einmal ausgemacht hatte, vermisste, weinte und brüllte sie los. Erschreckend häufig verkrampfte sich ihr Körper – mit all ihrer Kraft schien sie sich dann aufzubäumen –, und sie schrie so markerschütternd, dass man denken musste, ihr würde etwas fehlen.
Besonders heftig waren diese Scheikrämpfe nachts. Niemand konnte ahnen, dass Amy dann aus tiefen Träumen aufschreckte, in denen sie das Keuchen eines Mannes einholte, der mit seinem vollen Gewicht auf ihr lag, sie würgte und ihr ohne jeden Grund furchtbar weh tat.
Voller Sorge brachte Kristin ihre Tochter zu dem
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