Delete: Thriller (German Edition)
auch nur die letzten Nächte bei einer neuen Freundin verbracht. Der Gedanke erschreckte Mina. Sie bereute auf einmal, das Buch mitgenommen zu haben. Welches Recht hatte sie eigentlich, sich derart in Thomas’ Leben einzumischen? Was würde er von ihr denken, wenn er erfuhr, dass sie mithilfe des Hausmeisters in seine Privatsphäre eingedrungen war?
Sie schrieb ihm einen langen Brief, in dem sie sich für ihr Verhalten entschuldigte, erklärte, warum sie sich Sorgen gemacht hatte, und ihn bat, sich bei ihr zu melden, sobald er zurückkehre. Im P . S. erwähnte sie, dass sie sich das Buch auf seinem Nachtschrank geliehen hatte. Dann kehrte sie noch einmal zu seiner Wohnung zurück und schob den Zettel unter der Tür durch, bevor sie sich auf den Weg zur Uni machte.
5.
Du sitzt auf der alten, nach Schimmel riechenden Matratze. Es ist still und kühl hier unten. Die Luft schmeckt abgestanden und bitter. Eine einzelne Glühbirne im Drahtkäfig beleuchtet den fensterlosen Raum. Rostige Stahlregale tragen Trockenvorräte, deren Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen ist, einen Verbandskasten, Gasmasken, ein altmodisches Strahlungsdosimeter, Pappkartons mit alten Unterlagen. An der Wand ein vergilbtes Plakat mit Anweisungen für das Verhalten nach einem Atomangriff. Druckdatum April 1966.
Von allen Orten, an denen du sein musst, weil du nicht dort sein kannst, wo du wirklich bist, ist dir dieser der liebste. Er fühlt sich sicher an. Aber natürlich ist auch das nur eine Illusion.
Deine Hand gleitet über den porösen Beton der Wand. Deine Fingerkuppen spüren den Widerstand. Warum hat sich noch niemand gefragt, wie es sein kann, dass einem die Dinge um einen herum so massiv vorkommen? Es ist doch angeblich erwiesen, dass sie fast nur aus leerem Raum bestehen. Der Abstand zwischen Elektronen und ihrem Atomkern entspricht demnach dem eines Stecknadelkopfs, der in zehn Kilometern Entfernung um einen Apfel kreist. Ist es nicht offensichtlich, dass da etwas nicht stimmt? Diese Frage hast du damals in der Schule gestellt. Sie haben dich ausgelacht.
Inzwischen weißt du, es ist nicht Arroganz oder Dummheit, die sie davon abhält, die richtigen Fragen zu stellen. Es ist ihre Angst. Das Wissen, dass die Welt nicht so ist, wie sie erscheint, dass man in einer Lüge lebt, dass alles ein Fake ist, kann niemand aushalten. Sie verdrängen die Wahrheit, wollen sie nicht hören. Und wenn du sie trotzdem aussprichst, machen sie dich lächerlich und erklären dich für verrückt. Sie würden dich sogar in eine Anstalt sperren. Das weißt du längst, deshalb sagst du nichts mehr, hast den Versuch, die Wahrheit zu offenbaren, schon lange aufgegeben.
Und doch weißt du, es gibt noch mehr Wissende da draußen. Es muss sie geben. Du bist zwar intelligenter als die meisten, aber doch längst kein Genie. Wenn du es weißt, müssen es auch andere wissen. Mit einem von ihnen zu reden wäre so befreiend. Dann könntest du es vielleicht sogar ertragen, jedenfalls eine Zeit lang.
Doch die Admins wollen das nicht. Sie unterbinden den Kontakt. Ein paar auf sich allein gestellte Zweifler sind zu verkraften, doch wenn sich eine Zelle bildete, könnte eine kritische Masse entstehen, die die ganze Blase zum Platzen brächte. Was würde dann wohl passieren? Wär es das Ende oder ein Anfang? Tod oder Wiedergeburt? Wie auch immer, sie dürfen das nicht zulassen. Du weißt es, und sie wissen, dass du es weißt.
Du kannst nichts tun .
Du kannst nichts tun.
Du kannst nichts tun.
Doch du hast etwas getan.
Was werden sie nun mit dir machen?
6.
Eisenberg schob den Rollstuhl auf dem gewohnten Weg an der Außenalster entlang.
»Wie ist er denn so, dein neuer Chef?«, fragte sein Vater.
Eisenberg schwieg einen Moment, mehr aus Gewohnheit als aus Überraschung. Es war sein Vater gewesen, der ihm beigebracht hatte, erst zu denken, bevor er etwas sagte. Und er kannte längst dessen unheimliches Gespür dafür, was seinen Sohn bewegte.
Rolf Eisenberg war bis zu seiner Pensionierung Richter am Hamburger Oberlandesgericht gewesen. Seinen Gerechtigkeitssinn hatte er auf seinen Sohn vererbt, doch die Fähigkeit des Gedankenlesens – jedenfalls kam es Eisenberg manchmal so vor – nicht.
»Er ist arrogant. Er denkt, weil er ein paar Jahre in New York war, ist er ein besserer Polizist als alle anderen.«
»Und ist er das?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn bisher noch nicht bei Ermittlungsarbeiten erlebt.«
»Aber er dich.«
»Na ja, nicht direkt. Es gab
Weitere Kostenlose Bücher